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Channel: Musique Concrète – Norient
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Sein Zuhause Komponieren

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Ich wuchs auf in einer ruhelosen Welt. Im Haus meiner Großeltern, im Bombay meiner Kindheit war Stille ein kostbares Gut. Alles war laut, durch die immer offenen Fenster drängten die Straßen in die Zimmer, mit ihren kreischenden Hupen, knatternden Dieseln, den melodischen Schreien der fahrenden Händler. Auch im Haus schrie man selbst dann, wenn man es sachlich meinte: um das unaufhörliche Brausen der Stadt im Wohnzimmer zu übertönen, hatten meine Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins ihre Stimmen zu kräftigen Organen erzogen.

Nie war man allein. Aus der Küche drangen Zisch- Brutzel- und Hackgeräusche, aber auch jene oft in lautem Gekeife oder Gelächter kulminierenden Debatten in drei Sprachen – Gujarati, Marathi und Englisch – die sich nahtlos ins Esszimmer und in den Shivaji Park gegenüber fortsetzten, wo jeder Sonntag mit endlosen Lautsprechertests begann, Probeläufen für politische Massenveranstaltungen, deren geifernde Appelle regelmäßig den Hof und die Bäume vor unserem Haus überschwemmten. Darin punktierten Affen, Tauben, Mynahs und Krähen den allgegenwärtigen Lärm, aber auch die stillsten Minuten, kurz vor Tag, in jener verhaltenen, verwunschenen Zeit, in der das Hecheln hunderter Morgengymnasten den Tag begrüßte, Tennisbälle und –rufe, das Klackern der Bambusstäbe, die in wie rituelle Tänze anmutenden Verrenkungen aneinandergeschlagen wurden. Manchmal konnte man, in diesen kurzen Minuten des Zwielichts, tatsächlich das nahe Meer rauschen hören, der Bordun für all die bald darauf einsetzenden Morgengesänge aus den Häusern rundum, und für die ferneren Rufe der Muezzins.

Die Welt war ein brodelndes Miteinander verschiedenster Klänge, menschlicher, technischer, natürlicher – und von Musik. Die singenden Rufe der Bettler, die blechern und quäkend lärmende Fröhlichkeit der Hochzeitsbands, die jeden Winter zu einem monatelangen Fest werden ließ, die kreischenden Radios, die obsessive musikalische Beschallung jedes Unterfangens im öffentlichen Raum diente nicht, wie hierzulande, der Erzeugung klingender Schutzglocken vor dem Alltagslärm, sondern erzeugte, dendritengleich, ein Netz von Beziehungen: da sang die Tante in der Küche das Lied aus einem vorbeifahrenden Taxi mit, hupte der Taxifahrer im Rhythmus der an ihm vorbeiziehenden Prozessionsmusik, die wiederum Filmschlager intonierte, die aus einem der Läden am Straßenrand quollen.

Jeder hörte, jeder machte aber auch Musik: Fast jeder ältere Mensch, der mir in Indien nahe war, sang täglich seine Gebete und Lieder vor sich hin, in einer melodischen Komplexität, die mir noch heute erstaunlich erscheint. Klassische und populäre Musik bedeuteten nicht musikalische Kategorien, sondern verschiedene Stufen der Aneignung: alles , was man wiederholen konnte, mit sich singend im Alltag umhertragen, war populär – klassische Musik war dagegen das Unwiederholbare, das den Moment des Hörens und Machens herausschälte aus der ewigen Wiederholung der Welt.

Die Welt war eine Haut aus Lärm, in der man geborgen war, die einen nicht in Ruhe ließ. Dann kam ich nach Deutschland, aufs schwäbische, später norddeutsche Land, mit seinen geschlossenen Fenstern, den großen Schallschluckern Regen und Schnee, den wortkargen Konversationen im Unterton. Vorher war mein Elternhaus fast eine Insel der Stille im indischen Alltag gewesen, jetzt waren wir immer und überall, wo wir wohnten, die lautesten Nachbarn.

Was ich mitnahm aus Indien, war das Bewußtsein dafür, dass kein Klang je alleine daherkommt – aber auch die Sehnsucht nach dem köstlichen Geschmack der Stille und der Kraft, die aus ihr entsteht. In Hammah, dem niedersächsischen Dorf meiner Jugend am Rande des Sterneberger Moors, wurde ich in der regenrauschenden Stille der einsamen Nachmittage zum Komponisten, der Töne aufsuchte und aus der Erinnerung klaubte. Unbeholfen anfangs (und eigentlich noch immer), aber unbeirrt in meiner Suche nach dem sich immerzu wandelnden, und genau aus diesem Grund letztlich intellektuell undurchdringlichen Zusammenwirken disparater Klänge.

Tatsächlich hat mich Musiktheorie bei aller intellektuellen Lust, die sie mir ermöglichte, nie wirklich gefesselt, ihre pseudo-mathematischen Spiele und pseudo-histologischen Präparate, seien es Skalen, harmonische Analysen, Frequenzraster, Formmodelle, Mikrotöne, die mich allesamt sehr lange Zeit selber verwirrten, vom Komponieren dessen, was ich wirklich suchte, abhielten – heute erscheinen sie mir als ebenso viele Mittelchen gegen die Folgen einer frühkindlichen akustischen Mangelernährung. Ihre bedauerlichen Opfer schneiden sich in heroischer Geste die Ohren ab, um den Tumult (und die Süsse) der Welt nicht ertragen zu müssen. So wollte ich nicht leben.

Mein kompositorischer Umgang mit den verschiedenen Klangwelten, in die ich geworfen wurde, und auch jenen, die ich später aufzusuchen begann, arbeitet sich keineswegs an einer Konjunktion musiktheoretischer oder klanglicher Kulturphänomene ab. Das würde meinem Empfinden nicht gerecht. Mein Weg in diesem terrain vague ist ganz persönlich, aber darin vielleicht auch verbindlicher. Er lebt von dem aus meinem Werdegang erklärlichen akustischen Gefälle zwischen Großstadt und Land, zwischen Gesang und Geräusch, vor allem aber zwischen den Regeln des Zusammenseins – und der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit von Harmonie und Bedeutung.

Einige meiner neuesten Arbeiten wie „Inside A Native Land“ oder „Mora“ erforschen vor allem das letzte Gefälle: wie kann man viele musizierende Individuen musikalisch einander zuhören lassen, ihnen Regeln geben, die ihnen den Kontakt zueinander erleichtern – und wie kann man dann aus diesem Kontakt Bedeutung entstehen lassen, eine Bedeutung, die ich als Komponist selbst noch nicht kenne, die jedoch auch über den Moment der Entstehung hinaus wirksam bleiben kann. Noch sind es nahezu monochrome Tableaux, die ich da entwerfe, in denen das Wuseln der Klänge sich vorerst auf wenige Gesten beschränkt, akustische Snapshots aus meiner Erinnerungstruhe, die Geschichten nur zwischen den Bildern erzählen.

Vielleicht ist das, so denke ich manchmal, überhaupt immer so, dass Bedeutungen nur im Zwischendrin entstehen. Hier ein Kinderschrei, dort ein Klavierton, dahinter der Diesel eines Lastwagens, ein Bohrer in der Wand und ein paar Worte Türkisch von der Straße herauf – so klingt es in meinem Berliner Arbeitszimmer gerade: und das ist eine schöne Metapher für meine Art von interkultureller Musik. So komponiere ich mir auch mein musikalisches Zuhause.

Immer wieder höre ich ich im Westen, dass wirkliche Musik nur aus der Stille kommen könne, aus der Stille der Welt. In Indien ist es dagegen die Lebensaufgabe eines klassischen Musikers, das Tosen der Welt mit heißem Bemühen in eine metaphysische Stille zurückzuführen.

Mir ist beides als Erfahrung nicht fremd – aber ich weiß: mein Glück als Musiker finde ich nur im Wechsel der Perspektiven, im Wirbel der Bedeutungen, in jener Gleichzeitigkeit des sich Fremdartigen, die mir ins Ohr brüllt, dass die Welt der Klänge formlos sei, ohne Ziel und ohne Gestalt, ein unzähmbares Flirren von Lebenszeichen und Klängen. Dann fühle ich mich wohl und bei mir. Und kann mich ruhig an meinen Schreibtisch zwischen all diesen Kulturen setzen – und komponierend in mich hinein dem lauschen, was von der rauschhaften Kakophonie der Welt, die mich jeden Tag meines Lebens durchweht, in meinem Hören hängen blieb.

© SANDEEP BHAGWATI
Picture one by: Wili Hybrid
Picture two by: fabian-f


Tarek Atoui: Digital Bricolage

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Reflections on the new multi-local musical Avant-Gardes of the 21st Century. An essay on the Lebanese musician Tarek Atoui, Luigi Russolo, Mazen Kerbaj and many artists more.

To me, Tarek Atoui represents the new, truly transnational musical avant-garde of the 21st century. Atoui was born in Lebanon in 1980, and like his contemporaries, he experienced the Lebanese Civil War (1975 – 1990) and was socialized by the sounds of war, soon learning to recognize weapons by their sounds alone. However, in 1998, his life as a cosmopolitan commenced. He had moved to Paris where he studied music at the French National Conservatoire of Reims and collaborated with IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) at the Centre Pompidou in Paris. The French-funded IRCAM was founded by Pierre Boulez and hosted such famous teachers as Xenakis, Globokar and Nono. It was one of the biggest and wealthiest institutions of the avant-garde of the twentieth century (similar to studios of new music and electronic music in Germany and in different cities of the West).

Tarek Atoui (Picture by Tanya Traboulsi)

One artist, often called a pioneer of this old musical avant-garde, was the Italian painter and Futurist Luigi Russolo. His famous manifesto from 1913, “The Art of Noises” glorified explosions, rifle fire and the dissonance of industrial machinery. To Russolo and such similar writers as Filippo Tommaso Marinetti, Paul Jünger and Paul Virilio, war resembled a fascinating aesthetic and mythical phenomenon, showing human kind in its whole beauty – both passion and reality (Witt-Stahl, 1999). Russolo and his fellow Italian Futurists encouraged innovation and wanted to outdo the German-Austrian classical music superculture (Ross, 2007). They no longer were moved by the increasingly complex and dissonant patterns of the great composers’ orchestra music, therefore they sought to include other noises and to create new instruments. To them, music was supposed to resemble the realities of modern life. Fascinated by war and its weaponry, many of the Futurists sided with Mussolini’s fascist regime. For some observers, the Futurists were simply a reactionary fascist group; however, for others, they seeded the ideas for many innovations to come.

From Rural to Urban Sounds of the Middle East

Tarek Atoui is well familiarized with Luigi Russolo and the other heroes of the musical avant-garde from Europe and was more than happy to share his MP3 and WAV files with me. In a hotel lobby in Amman we wired our laptops together, and I copied them all – tracks from Karlheinz Stockhausen, from Musique Concrète pioneers like Pierre Schaefer, Luc Ferrari, and Iannis Xenakis, who was of Greek decent. Xenakis, like many others throughout time and in different fields was fascinated by the sounds, melodies, rhythms and noises of the Orient.

On a side note, please listen to the Javanese Gamelan of Debussy, and to the later Orient hallucinations of the US-American jazz and pop avant-garde: the Beat Generation in the 1950s and the psychedelic rock and hippie movement in the 1960s. Psychedelic rock was hip in the Arab World as well. In Beirut alone nearly 200 bands performed psychedelic rock concerts and laid the foundation for the subcultural music scene in Lebanon. Listen to such composers as Bartok and Kodaly from Eastern Europe and Russia as well. For them, non-Western was often rural; however, to Tarek Atoui non-Western is urban. This is one of the many reasons why he belongs to the new, truly transformational avant-garde.

Nonetheless, Bartok and Kodaly influenced an entire generation of musicians and composers in Lebanon, the Rahbani Brothers and Fairuz, Zaki Nassif, Tawfik Sukkar, Tawfik al-Basha and others. From the 1950s onwards, supported by the radio stations Radio Lebanon and al-Sharq al-Adna and by the Christian political establishment, they created what is often referred to as Lebanese music. This style of music took elements from village music, removed some of the harsh sounding instruments, introduced European harmonies and made it accessible to the Beiruti bourgeoisie (Manguy, 1969, Weinrich, 2006, Stone, 2008, Asmar, 2001, 2004, 2005).

In 2005, Atoui returned to Beirut for the first time for a period of one week, during which time I met him in a fashionable bar in Hamra. Atoui had heard that musically, Beirut was on the move. Mazen Kerbaj, Sharif and Christine Sehnaoui began experimenting with free improvised music in the end of the 1990s and the scene had grown quite steadily, and was now ready. In terms of quality, musical pioneers such as the German saxophonist Peter Brötzmann were no longer that far away. In fact, I found Brötzmann’s album “Machine Gun – Automatic Gun for Fast and Continuous Firing” and a selection of free jazz and free improvisation music from Europe and the United States in the apartment of the trumpet player Mazen Kerbaj in East Beirut.

In Beirut, Atoui wanted to discover this scene and the up-and-coming subscenes like post-rock with an experimental touch (Scrambled Eggs), noise to grindcore (Xardas), electro-acoustic works (Cynthia Zaven) and glitch. To do so, Atoui returned to Beirut in 2006 for three months. He organized two workshops and presented MAX/MSP to many of the upcoming musicians in Beirut. It is with this software that Atoui creates his highly complex mixtures of digital soundscapes, abstract beats and noises. He also held children’s workshops in Palestinian refugee camps in Lebanon, during which he taught children to record and film sounds and images from their local surroundings and to edit the video and sounds into collages.

In addition to the workshops, Atoui performed regularly. In his performances, he created soundscapes full of ruptures, cuts and contrasts, and mashups of intense noises, digital frequencies and samples from different sources including field recordings, voices (Arabic, English, Chinese, etc.) media files (from radio and TV), popular music (Arabic strings, Chinese opera, etc.), war sounds and much more. Listeners receive the sounds in different qualities (lo-fi to hi-fi) and compressions (MP3 to Wave), and Atoui adds reverb, distortion and other effects to the mix. The resulting sounds are then sent to the left and right channels and to the foreground and background of the speakers. It is from these performances that we find many reasons to include Atoui within the new avant-garde of the 21st century. His music is not intellectual and stiff, but rather switches within seconds between old categories of high and pop-culture, and while a bit more extreme, it is similar to pop-avant-garde streams in the United States.

Atoui does focus on his performance as much as on the finished piece of music. He spends a lot of his time developing what some call ‘psychological’ interfaces. These interfaces enable interaction in real-time between him as a musician and his laptop. On stage, he ‘plays’ his laptop like a famous rock guitarist plays his guitar. To do so he uses self-built controls to steer his software. At first, Atoui stands still while his music plunges through chaos, with noise and rhythmic structures originating from all possible directions. Then his body starts to move, as he introduces breakbeats. Hardcore drum’n’bass begin structuring the soundscape encapsulating beats from the well-known canon of popular music and club culture. On YouTube one can see Atoui in action – sometimes he performs without a shirt, and the sweat on his body shows the intensity of his music. Russolo and some members of the old European avant-garde would have a fit if they saw these hedonistic performances.

Music resembles the structures of the society in which an artist lives – as several ethnomusicologists argue at times (Blacking, 1976, Erlmann, 2005). Tarek Atoui lives in an increasingly digitized and transnational society where his musical samples derive from here and there and from the past and the present. While his mixes and mashups are full of breaks and ruptures, his life is fairly chaotic as well. It is possible to reach Atoui via Skype, Facebook and email, but never via landline. Since 2005, he has lived without a permanent place of residence. He travels from job to job, performing well-paid events in art universities in Europe, poorly paid gigs in small music venues and giving lectures and organizing workshops in the Middle East funded by an international art and development NGO. Recently, he has spent his time performing and working in Sharjah in the United Arab Emirates. He must constantly negotiate between his own artistic visions and the diverse demands of his various hosts as he moves between the worlds of art, theater, dance and music. Switching between contexts of this sort resembles those from the pop avant-garde born in the United States, or rather, as some have called it, experimental music from non-musicians who were educated at universities of art. These non-musicians have more freedom than the musicians who are stuck in the large institutions of the music world (Kahn, 2001, p.104).

From Arabic Music to the Noises of War

What upsets Tarek Atoui and his musician colleagues in Beirut the most is when international art organizations, music lovers, and ethnomusicologists from the United States and Europe argue that their music sounds too Westernized. They often feel pressured to introduce more elements from Arabic music, a style they are often unfamiliar with for various reasons. For example, the European style teaching of Arabic music let many musicians flee away from this musical canon (Burkhalter, 2007, 2011, Racy, 2003, Touma, 1998). According to today’s musical avant-garde in Beirut the demand to introduce more Arabic music is simply dim-witted – and some of these artists have learned how to confront what they call the Orientalist demand.

Mazen Kerbaj opened this debate on the interrelation between music and the sounds of the Lebanese Civil War while being interviewed by a German journalist. “Maybe one hears the Lebanese Civil War in our playing, I told the journalist,” Kerbaj told me during one of our interviews. “Sharif and Christine Sehnaoui, who sat next to me, almost burst into tears from laughter when they heard me say this.” Was Mazen Kerbaj’s answer simply a strategic move to answer the frequent questions about “authenticity” and “locality” that foreign journalists, international funders and scholars continue to ask? Or was it more? It is certainly an interesting answer to a challenging question: How are sounds heard during one’s childhood and youth translated into one’s later artistic expression? Indeed, the blubbering, jarring and clapping sounds that Kerbaj produces on his trumpet seem to resemble the sounds of rifles and helicopters. Is this more than just the imagination, or simply wishful thinking? If we seriously analyze the issue, it becomes clear. The surroundings in which one grew up have an impact on the music of a musician. However, this impact takes place on the deepest levels of musical creation, not necessarily on the surface. However, superficially, one could read these strategies of working with the sounds of war as a move not to “disappoint” international audiences. One could critically argue that the “exotic” flavor of the sounds of war replaces that of Arabic music. Particularly outside the field of music, many Lebanese artists who present their works internationally use memories, images and audio samples from the Civil War (or from the 2006 war between Israel and Hizbullah), some of which are hidden and others readily apparent. In doing so, they create a certain “locality” or even “authenticity.” Atoui is extremely critical of these artistic strategies; however, he knows all too well that this topic is too complex to judge quickly and easily.

Some Beiruti musicians follow different paths to create local sound. Some follow the renewed transnational trend for psychedelic music, and the best of these work with psychedelic music from a perspective different from many of the musicians from Europe and the United States that work in the field. They are aware of what the samples they use represent within the Middle Eastern context, or at least, they understand the lyrics of the sampled song bytes.

Raed Yassin, a colleague of Tarek Atoui, manipulates sounds from Lebanese and Egyptian pop culture on his new label Annihaya. His pieces function on the aesthetical level primarily, as they become hidden audio-narratives that comment critically on social and political issues. In the worst case however, some of the Lebanese musicians do not know much about the psychedelic media samples they utilize, often because they grew up in the city within elite families, and thus pop culture from rural areas is rather foreign to them. I felt this strongly after the 2006 war, when many Lebanese video producers went to South Beirut and to southern Lebanon to film the destruction. Some of these artists were entering these areas for the first time, and in their short videos they often talked and behaved like tourists – thus, the gap between the avant-garde and the non-elite and rural-pop culture still exists today. Most of these Beiruti musicians studied in art schools, and not in the rather conservative National Lebanese Conservatory. Some of them grew up in huge villas as well.

In Jennifer Fox’s documentary film, Beirut – The Last Home Movie, we see Sharif Sehnaoui as a little boy. The film offers insight into the daily life of a well-off Lebanese family living in East Beirut. We see the family members working in the garden and cleaning the house, while we hear shooting and shelling nearby. To forget the harsh realities of war, the women depilate their legs, and the men compete in car races through the narrow streets of the Lebanese mountains. Often times, the family sits together in the shelter with friends from the neighborhood during heavy bombardments. Little Sharif and the other children have the attention of the whole family upon them, as they play games, watch animated cartoons and are allowed to stay up late. Everyone ignores even the loudest explosions. Imprisoned by the war, the family creates its own private world, in which they pretend to live an ordinary everyday life. Despite attempts to convince themselves and their children that everything is okay, in the end this strategy does not work, argues the Lebanese anthropologist Samir Khalaf. The war affected all the Lebanese, with even the rich and educated suffering from trauma. While one should not judge the elite for being better off, their experience should probably not be compared to the experiences of those from the poorer groups. “There is hardly a Lebanese today who was exempt from these atrocities either directly or vicariously as a mediated experience. Violence and terror touched virtually everyone.” (Khalaf 2002, p.236) Among these elite musicians, some saw the death of family members or friends with their own eyes.

From our first conversation, Tarek Atoui convinced me with his clear and cogent positions on these complex and delicate topics and questions. He tries hard not to mix his role as a musician with his role as a social actor and a human being. Within his music, he strays close to the European concept of creating art for art’s sake. Art for art itself is political, because it aims to inspire people to move beyond commercialism, propaganda, and in his case Orientalism, a necessity for not only Lebanon, but for the transnational music worlds as a whole. Atoui believes that artists can play a direct role in changing societies as well, thus why he works on social projects and in workshops. However, these are separated clearly from his artistic career.

For me, this again puts him within the ranks of the new avant-garde of the twenty-first century. This new avant-garde evolved outside the Euro-American world and it creates increasingly strong artistic and political positions. Artistically, it renders music that is between pop culture and music as art. The range of musical variety is wide. On one side of the extreme, we find styles like kudoro, kwaito, baile funk and nortec, which some scholars call global ghettotech (Marshall, 2009). These styles are to a certain extent an updated version of what Eshun calls afrofuturism (Eshun, 1999, Goodman, 2010). On the other extreme, we find artists working in such genres as free improvisation, musique concrète and glitch (Prior, 2008, Kraut, 2009). These artists deal with concepts like anti-Orientalism and alternative modernity, and they are as close to Futurism as they are to afrofuturism. Politically however, these musicians often do not believe in big political ideas anymore, and they often do not present direct politics in their music. The Lebanese musicians, for example, do not feel close to the leftist protest singers of the Lebanese Civil War, like Marcel Khalife, Khaled al-Habre or Ahmad Qaboor. If anything, they prefer the Lebanese singer and musician Philemon Wehbe who during the Civil War released a cassette with the song, “Lebanon, They Fucked You All.”

In addition, the new avant-garde is no longer interested in the clear divisions between the so-called first and third world. They network and collaborate freely with musicians in Europe and the United States as equals. In my last Skype conversation with Atoui, one of his sentences really stuck with me. On my own network, www.norient.com, I perform the piece “Sonic Traces: From the Arab World,” an audiovisual journey through sounds, music and noises from the Arab World. Three Swiss (including myself) play on stage, and sometimes a guest from the Arab World (for example, Raed Yassin) plays with us, whenever an organizer can afford the airfare. Tarek Atoui told me to contact Sharif Sehnaoui to perform at the 10th Irtijal Festival for Improvised Music in Beirut. We intend to do so, most likely in 2011; however, we are a bit worried. Three Swiss people talking to an Arab audience about music in the Arab World, Will this work? “Don’t worry,” Atoui told me directly, “We create our music in transnational niche circles, beyond nationalities. You are one of us.”

Tarek Atoui and his colleagues in Beirut represent the new avant-garde of the 21st century. They challenge the Euro-and US-centric views of innovation in music, and are part of Music 2.0 niche networks. They create music in small studios, rather than in big radio studios like those from the earlier avant-garde. Their music speaks from a specific, non-Eurocentric position, and does not come with political or artistic manifestos. It is not Futurism, nor is it afrofuturism, and it is often unstable and not always clear in its focus. It is searching to find transnational artistic positions beyond Orientalism, consumerism and propaganda.

After a brilliant and moving concert with the Staalplaat Sound-System at the Transmediale Festival in Berlin in 2008, Atoui was very angry. “We fucked up, we lost control,” he told me unhappily after the performance. This is what today’s world is about, I thought. We are surrounded by information, by war, by terror and by an enormous volume of media sources. One could argue that Atoui creates the soundtrack of the 21st century, which would fit with Anthony Storr’s idea that music is an attempt to “create sense out of chaos” (Storr, 1992). According to him, music is not an escape from “real” life, but rather a way of ordering human experience. At least Atoui and some of his Beiruti colleagues seem to come closer to the cry of the Pop Art generation: Art is life and life is art.

This essay was first published at Bonner Kunstverein:

Burkhalter, Thomas. 2010. “Tarek Atoui – or: Reflections on the New Musical Avant-Gardes of the 21. Century”. In Indicated by Signs. Bonner Kunstverein, Goethe Institute Kairo.

Photographs

All photographs in this article were taken by Tanya Traboulsi. Tanya Traboulsi spent her childhood and youth between Lebanon and Austria. Her work includes music photoghraphy, documentary and reportage and has been widely published across the region. Some of her pictures are published in the book «Untitled Tracks: On Alternative Music in Beirut» (Edited by Ziad Nawfal and Ghalya Saadawi). The book is a collection of texts and photos which begins to chart the manifold, mutating and increasingly visible alternative musical landscapes in Beirut.

Bibliography

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Asmar, Sami. “Remembering Zaki Nasif: A Lebanese Musical Odyssey.” Al Jadid Magazine 2004, 46/47 ed. —. “Tawfiq al-Basha (1924-2005) – Passion for Modernizing and Popularizing Instrumental Arab Music.” Al Jadid Magazine 52 ed.

Blacking, John. How Musical is Man? London: Faber Faber, 1976.

Burkhalter, Thomas. Creating Sense out of Chaos: New Sounds from Beirut. 2011 (Forthcoming).

Burkhalter, Thomas. “Mapping Out the Sound Memory of Beirut: A Survey of the Music of a War Generation.” Itinéraires Esthétiques et Scènes Culturelles Au Proche-Orient. Ed. Franck Mermier. Beirut: Institut Francais du Proche-Orient, 2007.

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Jauk, Werner. pop/music + medien/kunst: Der Musikalisierte Alltag der digital culture. Osnabrück: Electronic Publishing Osnabrück, 2009.

Kahn, Douglas. Noise, Water, Meat: A History of Sound in the Arts. Cambridge, Massachusetts: MIT Press, 2001.

Khalaf, Samir. Civil and Uncivil Violence in Lebanon – A History of the Internationalization of Communal Conflict. New York: Columbia University Press, 2002.

Kraut, Peter. “Verständigungsprobleme unter Nachbargemeinden – Pop und Kunstmusik: zur Gleichzeitigkeit zweier avancierter Musikgenres.” Dissonanz 107 (2009): 18-21.

Mainguy, Marc-Henri. La Musique au Liban. Beirut: Les Editions Dar An-Nahar, 1969.

Marshall, Wayne. “Global Ghettotech vs. Indie Rock: The Contemo Cartographyof Hip.” Wayneandwax. .

Marshall, Wayne, Rivera, Raquel Z., Deborah Pacini Hernandez (eds.). Reggaeton, Durham and London. London: Duke University Press, 2009.

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Weinrich, Ines. Fairuz und die Brüder Rahbani – Musik, Moderne und Nation im Libanon. Würzburg: Ergon Verlag, 2006.

Witt-Stahl, Susann. …But his soul goes marching on – Musik zur Ästhethisierung und Inszenierung des Krieges. Karben: Coda, 1999.

Soundscape-Aktivismus und Komposition

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Murray Schafer gilt als der Begründer der Soundscape-Forschung. Wie beeinflusst unsere akustische Umgebung uns als Menschen? Dieser Frage geht Murray Schafer seit den 1950er als Komponist, Hörforscher, Musikpädagoge und Anti-Lärm-Aktivist nach. Er ist ein Mann mit einer akustischen Vision, vielen Verehrern und einigen Kritikern. Thomas Burkhalter hat Murray Schafer an einer Soundscape Konferenz im Finnischen Koli zum Gespräch getroffen. Ein Portrait.

Podcast (59′)

Auf die Komposition «The Vancouver Soundscape» wird Murray Schafer fast immer angesprochen. «The Vancouver Soundscape» entstand 1973 in Vancouver, der drittgrössten Stadt Kanadas. Murray Schafer war damals Leiter des World Soundscape Project, einer Gruppe von Klangforschern vom Institut für Kommunikation an der lokalen Simon Frazer Universität. Wie verändert sich unsere akustische Umgebung – das interessierte Schafer. Und: Wie nimmt unser Ohr Informationen auf. Schafer und seine Forschungsassistenten Barry Truax, Hildegard Westerkamp, Peter Huse, Bruce Davis und Howard Broomfield zogen also mit Aufnahmegeräten und Spezialmikrophonen los, und sie fingen die verschiedenen Lärm- und Geräuschquellen von Vancouver ein. Sie fragten auch die Leute: Wie hört ihr Eure Stadt? Welche Geräusche gefallen Euch – und welche nicht? Es entstand eine Sammlung von Geräuschen aus Vancouver. Und eine Sammlung von Anekdoten darüber, wie es früher geklungen hat in Vancouver. Da war alles dabei: Schiffshörner, das Quietschen der Züge, bis zu Erzählungen von Indianern in den Reservaten.

«The Vancouver Soundscape» war eigentlich als eine reine Dokumentation gedacht, als ein Katalog von Umweltgeräuschen. Klaus Schöning vom Kölner HörSpielStudio hatte aber eine andere Idee: Für den WDR stellt er die Aufnahmen zu einer musikalischen Komposition zusammen. Das war die zündende Idee, sagt Murray Schafer heute. Das Genre Soundscape-Komposition war geboren. Komponisten und Musiker weltweit nahmen jetzt ihre akustische Umgebung auf und verarbeiteten sie zu Kollagen. Für Schafer selber eine ziemliche Überraschung.

Murray Schafer arbeitete bald für das kanadische Radio CBC. «The Soundscapes of Canada» hiess eine seiner Produktionen. 1975 reiste er dann nach Europa. Dort nahm er die Geräusche und Klänge in fünf Dörfern auf: «Five European Villages», hiess das Projekt. Tag und Nacht nahm die Gruppe auf – nicht bloss die Kirchenmusik, sondern auch den Verkehr vor der Kirche. Musikethnologen untersuchten damals vorwiegend Volksmusik, Schafer aber analysierte Dörfer anhand ihrer Geräusche. In jedem Dorf fand er andere Klänge und Geräusche; überall aber ähnelte sich der akustische Rhythmus von Tag und Nacht. Schafer notierte alles fein säuberlich: Zu welcher Zeit stehen die Leute auf? Wann hört man die Kinder, wann die Frauen, wann die Männer?

Die Musique Concrète setzt meistens auf Akusmatik: Das akustische Grundmaterial wird komplett in einen neuen Kontext übersetzt; die Originalsubstanz eines Klangs ist nicht mehr erkennbar. Die Soundscape-Komposition ist für Murray Schafer mehr: – Er und seine Kollegen von der Frazer Universität haben sogar einen Prinzipienkatalog aufgestellt: 1) Das akustische Originalmaterial bleibt für den Hörer erkennbar; 2) Der Hörer lernt über das Hören einer Soundscape-Komposition eine real existierende Landschaft besser kennen 3) Das akustische Originalmaterial in der originalen Landschaft beeinflusst die Ästhetik und Form der Soundscape-Komposition auf allen Ebenen. 4) Die Soundscape-Komposition verändert unser Wissen und unsere Wahrnehmung der Welt. Soundscape-Komposition wird so zu einem Forschungszweig der Akustischen Ökologie. Es geht immer um Orte, Zeitfragen, die Umwelt und um Hörerfahrungen.

Eines ist für Murray Schafer zentral: Der Soundscape-Forscher sollte sich tiefgreifend mit der akustischen Umgebung vertraut machen, die er vertonen will. Manche Komponisten stehlen die Geräusche sozusagen aus ihrer Umgebung, findet er. Seine Studenten zum Beispiel: Sie haben Frösche aufgenommen, ohne zu wissen, was für Frösche das eigentlich sind. Schafer passte das gar nicht. Es geht Schafer nicht nur darum, mit teuren Geräten herumzureisen und alles aufzunehmen, was einem grad so über den Weg läuft.

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Zum Podcast

Diese Sendung wurde ausgestrahlt am Mittwoch 23.3.2011 in «Musik unserer Zeit» auf Schweizer Radio DRS2.

Literatur-Tipp

Järviluoma Helmi & Kytö Meri & Truax Barry & Uimonen Heikki & Vikman Noora. Acoustic Environments in Change & Five Village Soundscapes. TAMK University of Applied Sciences. Series A. Research papers 13. University of Joensuu, Faculty of Humanities, Studies in Literature and Culture 14.

Tracklist

The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. The Music of Horns and Whistles, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Squamish Narrative, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Winter Images, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Cembra, Eastern Evening, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. A Children’s Church Service, and the Bells of Blissingen, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Morra, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
Murray Schafer. On Acoustic Design, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
Murray Schafer. The Crown of Adriana (The Schafer Ensemble featuring Judy Loman), Opening Days Recordings ODR9307
Murray Schafer. 3rd String Quartett (Mollinari Quartet & Marieä-Danielle Parent), ATMA Classique
Murray Schafer. Princess’ Aria (The Schafer Ensemble featuring Judy Loman), Opening Days Recordings ODR9307
Murray Schafer. Tapio for Alphorn, Canadian Music Centre CMCCD8902
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Ocean Sounds, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Dance of the Inscets, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Snow Games, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
Murray Schafer, Claude Schryer. Winter Diary, BMG Ariola Classics 73522 2

Die Stadt als Schlagwerk

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Aus einer Bibliothek von 23.000 Soundfiles - vom Aktenvernichter bis zum Absaugrohr, von der Planierraupe bis zum Bauchspeck - schufen schwedische Musiker und Filmemacher eine Symphonie von Malmö. Ein Interview mit dem Regisseuren des Films «Sound of Noise».

Man nehme eine Handvoll Musiker mit krimineller Energie und das Mobiliar einer Spießerwohnung. Heraus kommt der Kurzfilm „Music for one apartment and six drummers“- ein auf youtube millionenfach angeklicktes, absurdes Lehrstück für alle Perkussionisten. Mit Klo- und Zahnbürste, Schlaftabletten, Mixer, Eieruhr und Staubsauger schichten die Eindringlinge Rhythmen, erschaffen Kleinode zwischen Küchen-Funk und Toiletten-Drum’n'Bass.

Doch Haushaltmusik war gestern: Regisseur Ola Simonsson hat seine Truppe erneut zusammengetrommelt und wagt nun mit dem kompletten Feature-Film «Sound of Noise» den Sprung zum denkbar größten Instrument: eine Stadt.
 Seine sechs Helden sind sämtlich vom herzlosen und eingefahrenen Musikbetrieb enttäuscht, sie verdienen ihre Brötchen etwa als Schlagzeuger einer bräsigen Showband, als gelangweilter Paukenschläger für die berühmte Haydn-Symphonie. Und so greift das Sextett um den nerdigen Komponist Magnus Börjeson und die herrlich unterkühlte Sanna Persson zum äußersten Mittel: Mit gezielten musikalischen Terroranschlägen auf Malmö unterminieren sie das Establishment. Und realisieren dabei eine groteske Partitur in vier Sätzen mit punkiger Energie, technoidem Flair und Industrial-Anleihen: Sie entern ein Krankenhaus und machen den OP-Saal inklusive Patient zum Schlagwerk. Mit dem Schlachtruf „Hands up, this is a gig!“ wird groovend eine Bank überfallen. Der Aufführung einer Symphonie fahren sie mit Bulldozer und Presslufthammer in die Parade. Und schließlich hämmern sie gar aus dem städtischen Stromnetz eine monströse Klang- und Lichtshow. 


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Ein Jahr lang haben Simonsson und seine Perkussionisten nach Objekten und Gebrauchsgegenständen gesucht, die sich für ihre Zwecke verwenden ließen. Aus einer Bibliothek von sage und schreibe 23.000 Soundfiles, vom Aktenvernichter bis zum Absaugrohr, von der Planierraupe bis zum Bauchspeck wurde diese unorthodoxe „Symphonie der Großstadt“ dann zusammengesetzt. Geholfen hat der französische Klangkünstler Nicolas Becker, der auch für den Sound der Harry Potter-Filme verantwortlich ist. Verwöhnt durch die handwerkliche Dichte des vorangegangenen Kurzfilms hätte man sich als Zuschauer/-hörer natürlich noch mehr und längere Klangattacken gewünscht. Doch es muss ja auch Platz bleiben für einen Gegenspieler der Musikterroristen, verkörpert durch den komplett unmusikalischen Ermittler Amadeus (!) Warnebring (Bengt Nilsson). Mit Minderwertigkeitskomplexen gegenüber seinem Bruder, einem Stardirigenten, behaftet, will er nicht nur die Musiker, sondern die Musik überhaupt zur Strecke bringen. Ob ihm das gelingt, zumal er sich in die Perkussionistenchefin Sanna verliebt? So viel sei verraten: Warnebring, der von einem „Sound Of Silence“ träumt, wird am Ende Zeuge einer veritablen „Electric Love“.


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Das Vorbild: „Music for one apartment and six drummers“

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Interview mit Ola Simonsson, Regisseur von „Sound Of Noise“ 



Herr Simonsson, woher kommt Ihre Obsession für Perkussionsinstrumente?



Ola Simonsson: Ich denke nicht, dass es eine Obsession für Perkussion ist, mein Antrieb ist eher, Musik aus Alltagsgegenständen zu produzieren. Die Musiker im Film trommeln ja auch nicht einfach auf allem herum, sondern versuchen, Töne und Akkorde auf bestimmten Gegenständen zu fabrizieren. Nach dem Kurzfilm „Music For One Apartment And Six Drummers“ haben wir ständig weitergeforscht, auf was für Objekten sich spielen ließ, und irgendwann entschieden wir dann, dass wir einen abendfüllenden Film wagen sollten.



Gab es für diese Brücke zwischen hör- und sichtbarer Rhythmik irgendwelche Vorbilder in der Filmgeschichte?



Simonsson: Wir haben uns gar nicht viele andere Filme angeschaut, sondern darauf konzentriert, unsere eigene Sprache zu finden, was natürlich manchmal heißen kann, dass man das Rad neu erfinden muss. Aber so konnten wir unseren Stempel aufdrücken, niemanden kopieren. Wir glauben im übrigen, dass jeder diese Musik machen kann und ermutigen die Leute dazu! Es wäre toll, überall auf der Welt neue Snare- und Bass-Drums zu haben, also öffnet eure Ohren und hört auf eure Umgebung! Ein Beispiel: Als ich am Computer die Sounds für den Kurzfilm zusammensetzte, da fing meine Frau – auch eine Musikerin – in der Küche an, auf dem Mixer zu spielen.



Nur für die Statistik: wie viele Musikinstrumente wurden im Film zerstört?



Simonsson (lacht): Das war schmerzhaft für mich, denn ich bin selber Musiker. Doch wir mussten es tun für diese eine Szene. Ich habe sie nicht gezählt. Wir haben versucht Instrumente zu finden, die noch gut aussahen, aber nicht mehr spielbar waren. Bengt Nilsson, der den Kommissar spielt, hat sich so aufs Kaputtmachen konzentriert, dass er danach für ein paar Minuten nicht mehr ansprechbar war. Er ist ja in seiner Zerstörungswut auch sehr überzeugend.



Wie entstanden die Sounds, die wir im Film hören?



Simonsson: Wir haben ein Jahr lang mit den Drummern und dem französischen Soundkünstler Nicolas Becker daran gearbeitet, das ist der Mann, der auch für die Harry Potter-Filme die Klänge gemacht hat. Im Verlauf dieses Jahres hatten wir fünf Aufnahmesessions über mehrere Tage. Dafür wurden eine Menge von Instrumenten und Objekten zusammengetragen, die Drummer haben versucht, dafür Sounds und Rhythmen zu finden, die wir dann aufgenommen haben. Für die Szene vor der Oper zum Beispiel haben wir Baumaschinen und Bulldozer gefunden, die sehr alt waren. Die neuen sind leise, wir aber brauchten knallende Türen, heftige Motoren. Am Ende hatten wir eine „Bibliothek“ von 23.000 Files auf dem Rechner und wurden fast verrückt, wegen der vielen Optionen, aus denen sich die Stücke bauen ließen. Das Shooting funktionierte dann eher wie in einem Rockvideo. Wir ließen den Sound, den wir aus den Files zusammengesetzt hatten, im Hintergrund laufen, und die Drummer agierten dazu.



Würden Sie zustimmen, dass der Featurefilm eine Art Technoversion des Kurzfilmes ist, was den Sound angeht? Der Kurzfilm war ja sehr akustisch und „Sound Of Noise“ wird vor allem gegen Ende eher hart …



Simonsson: Den Techno haben wir nie diskutiert, eher den Punk. Wir haben Einstürzende Neubauten und The Prodigy gehört, Musik mit großer Energie. Anfangs wollten wir bei akustischen Instrumenten bleiben, aber das wäre fast in Richtung südamerikanische Party abegdriftet, und diesen Stil wollten wir nicht. Als wir uns dann für elektrische Instrumente entschieden, wurde es cooler.



Im vierten Satz hängen die Musiker an Starkstromleitungen. Wurde das mit Stuntmen gedreht?



Simonsson: Es gab einen Moment, in dem wir versuchten, die Musiker an die Kabel zu bringen, aber es war zu gefährlich. Ich meine: Wer kann garantieren, dass keine Spannung auf der Leitung ist? Selbst wenn wir das mit den Stromversorgerfirmen abgesprochen hätten: Ich würde da nie raufgehen. Wir machten in Malmö ein altes Ausbesserungswerk für Lokomotiven ausfindig, dort gab es eine Traverse über die man Kabel hängen konnte. Die Drummer waren also in einer Höhe von fünf Metern an diesen Kabeln, und den Rest haben wir mit Blue Screen getrickst. 



Was machen die Drummer eigentlich im wirklichen Leben? Wurden Sie, wie Sanna im Film, tatsächlich von der Musikhochschule exmatrikuliert? 



Simonsson: Ich bin selbst auf die Musikhochschule gegangen und habe einige von ihnen dort kennen gelernt. Die Band hat vor dem Kurzfilm nicht existiert. Sanna, das einzige weibliche Mitglied, ist eine Schauspielerin, die anderen sind schauspielernde Trommler. Doch während wir den Kurzfilm machten, lernten wir die Charaktere der einzelnen Leute kennen wir wussten: Ok, dieser Typ sollte die delikateren Instrumente spielen, der dagegen ist eher der elektrische Typ, der der Solist. Im Featurefilm werden die Charaktere noch ausgebaut.



Im Plot wird ja auch in gewisser Weise ein Kampf zwischen dem etablierten Musikbetrieb und dem Untergrund ausgetragen…



Simonsson: Das würde ich so nicht sagen. Ich betone, dass ich viel klassische Musik gespielt habe, und ich mochte das. Zugegeben: Das Haydn-Stück, die „Symphonie mit dem Paukenschlag“, die im Film vorkommt, ist ein bisschen doof. Aber es geht mir darum zu zeigen, dass Musik nicht in Kategorien eingeteilt werden sollte, und das passiert jedem Stil. Im klassischen Musikbetrieb herrschen Lehrmeinungen vor, dass man ein Stück genauso und nicht anders zu spielen habe, vor allem in der Alten Musik, in der Renaissance. Im frühen Jazz dagegen war die Freiheit eine Maxime, das Lustprinzip. Heutzutage allerdings ist der Jazz wieder eine intellektuelle Angelegenheit geworden, auch hier findet man wieder Festlegungen, ein Diktat der Ausführungen, bis in den HipHop hinein findet man die Stilpolizei. Das tötet die Musik. Darum geht es mir: Meine Kritik bezieht sich auf diese Engstirnigkeit der Ausübenden.



Die Musiker Ihres Filmes werden von Kommissar Warnebrink und der Malmöer Polizei auch als Terroristen gesehen. In einer Szene werden vorsichtshalber alle möglichen unschuldigen Musiker verhaftet – das weckt Assoziationen an gewisse weltpolitische Geschehnisse. 



Simonsson: Natürlich hatten wir das mit im Hinterkopf. Was wir im Kurzfilm etabliert hatten, das war die Verbindung von music and crime. Eine sehr frische Perspektive, Musiker als Verbrecher zu sehen. Auch auf dem Hintergrund der Binsenweisheit, dass es – für Regime und Diktatoren – sehr schwierig ist, einen Song zu töten. Sie haben Angst vor der Macht der Musik. Schauen Sie sich an, wie die Leute in Russland Kassetten von Wladimir Wyssozki schmuggelten und das Regime keine Handhabe dagegen hatte. Auch beim ANC in Südafrika spielte Musik eine sehr wichtige Rolle, um das Apartheidsystem zu stürzen.

Kommissar Warnebrink, der die Musiker zur Strecke bringen soll, träumt von einer Musik, die aus Stille gemacht ist.

Versteckt sich in Ihrem Film auch eine Kritik an der Dauerberieselung?



Simonsson: Es ist kein politischer Film. Aber als Musikliebhaber fällt mir die Dauerbeschallung natürlich schon auf. Ich sitze mit Ihnen in der Hotellobby und wir hören Musik, ist die hier wirklich nötig? Im November kommt aus allen Kaufhauslautsprechern „Stille Nacht“. Während der kommunistischen Ära hatten sie speziell designte Arbeitslieder, damit die Leute effektiver und mehr arbeiteten. Auf der anderen Seite haben wir Entspannungsmusik, die mich an George Orwell denken lässt. Der Markt diktiert heute, dass Musik überall ist. Du kaufst mehr, wenn du in Stimmung gebracht wirst. Ich will selbst entscheiden können, wann ich Musik höre. Stille ist nichts Schlechtes, ich mag Stille. Meine Großmutter kam noch aus einem kleinen schwedischen Dorf, da gab es nicht viel Musik unterm Jahr, kein Radio, kein Grammophon. Wenn Weihnachten nahte, dann freute sie sich drauf, weil sie in die Kirche gehen konnte und dort „Stille Nacht“ hörte, von einem ganz speziellen Sänger gesungen. Heute, wo alles nur noch einen Click entfernt ist, haben die Leute eines verlernt: sich nach Musik zu sehnen.


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Uferlose Schalldämpfung

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Seit rund zehn Jahren veröffentlicht das Augsburger Drone-Ambient-Produzenten Label «Attenuation Circuit» CDs in kleinen limitierten Auflagen. Bei «Attenuation Circuit» stehen KünstlerInnen aus den Grenzbereichen zwischen experimentellen Musikgenres wie Drone, Noise, Musique concrète, Industrial und elektroakustischer Improvisation im Zentrum. Aus der norient-Serie von Brainhall.

In der Sendung werden Ausschnitte der «Attenuation Circuit»-CDs vorgestellt: EMERGE, das Soloprojekt des Labelgründers Sascha Stadelmaier, B°TONG, DAS AUDIO-VISUELLE KOLLEKTIV, das Noise Projekt ORIFICE, das Duo ZANDER/FIEBIG und SGHOR. Die Labelbetreiber Sascha Stadelmaier und Gerald Fiebig haben sich in Augsburg für brainhall über „Attenuation Circuit“ unterhalten und stellen uns in dieser Sendung Produktionen und Projekte des Labels vor.

Gerald Fiebrig und Sascha Stadelmeier von «Attenuation Circuit» (Foto: Annette Zoepf 2011)

Dieser Podcast stammt aus einer norient-Serie mit dem Art Production Label Brainhall. Brainhall sendet auf Radio LoRa.

brainhall zehn: Gerhard Zander/Gerald Fiebig: Modul 2

«Attenuation Circuit» auf Myspace

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Mehr als Eisbären: Elektronische Musik in der Schweiz

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Von einer landesspezifischen Ausprägung oder Entwicklung der elektronischen Musik kann man in der Schweiz keineswegs reden: Wer Erfolg hat, bewegt sich in internationalen Gefilden und internationale Künstler treten in den Schweizer Städten auf. Wegbereiter, Einflüsse und Vordenker sind greifbarer: Dieser Beitrag beschäftigt sich daher mit dem von der Kunst angestossenen Bewusstsein für den elektronischen Klang und beschreibt Momente, in denen elektronische Musik in Berührung mit der Popkultur kam und Teil von ihr wurde. Auszug I aus der Publikation des Chronos-Verlages von Bruno Spoerri (Hg.) Musik aus dem Nichts

Auzug II: Rizormorphe Klangsuche

1. Popkultur, international

1968

Die Jugendbewegungen und -Revolten um 1968 in Europa und Amerika als Folge des nach dem zweiten Weltkrieg einsetzenden Wirtschaftswunders und als Reaktion auf das mit ihm erblühte Bürgertum und seiner Bedürfnisse an eine produktive „Disziplinargesellschaft“ [1] verkörperten einen Bruch der Jugend mit den sozialen, kulturellen und politischen Anforderungen der kapitalistischen Gesellschaft. Die Kulturindustrie, besonders Kunst und Popkultur, wurde damals „zum Medium dieser Forderungen“ [2]. Nach 1968 über- und verlagerten sich im Spiegel technologischer (Massen-) Medien Begriffe und Definitionen sehr vieler Bereiche der kulturellen Produktion nachhaltig; es fand eine intensive, gegenseitige Durchdringung der verschiedenen künstlerischen Disziplinen statt, der Kunstbegriff und die Rolle des Künstlers wurde von Joseph Beuys (Jeder Mensch ein Künstler, 1967) zur Disposition gestellt, der Musikbegriff von John Cage (You don’t have to call it music, if the term shocks you!, 1982) radikal erweitert, beides wurde in der Popkultur aufgenommen: Jeder kann Musik/Kunst machen.

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Die elektronische Musik situierte sich bis in die späten 60er Jahre fast ausschliesslich im akademischen, hochkulturellen Kontext – zu diesem Zeitpunkt hielt gerade deren Technologie mit der Serienproduktion des Synthesizers (Moog, 1964) Einzug in Bereiche der Popmusik. Gleichzeitig wurde die Popkultur von Konzepten der bildenden Künste durchdrungen. Dieses spezifische Verhältnis lässt sich gut am Beispiel Deutschlands zeigen, etwa mit Bands wie Amon Düül, Can und Tangerine Dream: Man begann, elektronische oder elektronisch erweiterte Popmusik zu produzieren. Thomas Groetz beschreibt in seinem Buch Kunst-Musik die damalige Situation so: „eine Reihe von Bands, die nicht das herkömmliche Instrumentarium Gitarre, Bass und Schlagzeug, sondern vorrangig elektronische Instrumente verwendeten, waren ursprünglich in der bildenden Kunst beheimatet. Mehrere Mitglieder der Gruppen Tangerine Dream (Edgar Froese und Conrad Schnitzler) und Cluster (Conrad Schnitzler und Dieter Moebius) studierten an Kunstschulen und fanden als nicht ausgebildete Musiker im unkonventionellen Umgang mit der Elektronik zu einer eigenständigen Klangsprache.“ [3]

Cluster (Conrad Schnitzler und Dieter Moebius)

Pop und Gegenkultur

Der Wissenschaftszweig der Cultural Studies betrachtet Pop- und Jugendkultur als ein Feld, in dem sich gesellschaftliche Konflikte und Veränderungen kulturell manifestieren. In Deutschland beschäftigt sich vor allem seit den 90er Jahren ein Kreis von Theoretiker/innen und Autor/innen, entstanden im Umfeld der linken Popszene [4], kultur- und sozialwissenschaftlich mit der Popkultur und sieht diese als Summe von Manifestationen gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen westlicher Moral- und Wertvorstellungen, die in der Massenkultur nahezu alle kulturellen Sparten umfassen. Es werden Repräsentationen im Pop kritisch beleuchtet, insbesondere Mythen der Popkultur. Gerade auf repräsentativer Ebene wird gesellschaftliche Opposition über die Popkultur ausgetragen, fassen Tom Holert und Mark Terkessidis in ihrem Buch Mainstream der Minderheiten zusammen: „Die Kämpfe der Jugend mit Hilfe von Pop gehörten ebenso wie antirassistische, feministische, friedensbewegte oder ökologische Kämpfe zu den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit“ [5]. Die Repräsentation von Differenz, von Opposition gegenüber gesellschaftlichen Werten allgemein ist längst nicht mehr den angestammten Bereichen der Hochkultur wie Kunst oder Literatur vorenthalten, sie manifestiert sich seit geraumer Zeit auch in den „Fransen und Wucherungen“ der Popkultur.

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Ein Ausflug nach England: Industrial Music for Industrial People

Einige dieser „Wucherungen“ traten wie erwähnt in der Folge von 1968 in der Durchdringung von Kunst und Musik auf, sehr exemplarisch in England, wo sich 1969 in Hull die Performance-Gruppe COUM Transmissions um Genesis P-Orridge und Cosey Fanny Tutti bildete. COUM war ein Kunstwort nach der Vorlage von Dada, man initiierte Happenings und Performances. Von Beginn weg waren musikalische Elemente Teil der Aktionen. COUM Transmissions sahen sich eher als Musikgruppe, welche den damaligen Kunstkontext unterminieren wollte und mit kaputten Violinen, präparierten Klavieren und Spielzeuginstrumenten improvisierte – man wollte mit den Aktionen intermediäre Gesamtkunstwerke veranstalten, oder wie Cosey Fanny Tutti beschrieb, „entire environments for enjoyment“[6]. schaffen. Unter dem Einfluss der Wiener Aktionisten kam der eigene Körper zum Einsatz, wie etwa bei der Gruppensex-Aktion Studio of Lust in der Nuffield Gallery in Southampton 1975 oder Selbstverletzungen P-Orridges und Tuttis in den Performances Cease to Exist.

Genesis P-Orridge und Cosey Fanni Tutti in Studio of Lust, Nuffield Gallery, Southampton, 1975 (Quelle: www.vice.com/ Stephen Sprott)

1974 stiessen Chris Carter und Peter Christopherson [7] dazu. Die beiden Musiker brachten neue Musiktechnologien in die Gruppe, selbstgebaute Synthesizer und einen MicroKorg, man nannte sich ab 1975 Throbbing Gristle, was im Yorkshire Slang soviel wie eine Erektion bedeutet („pochender/brummender Knorpel“). Zu diesem Namen liess P-Orridge verlauten: „throbbing is also often used to refer to machines and engines“.[8] Und genau so klang die Musik Throbbing Gristles: Es war ein improvisiertes, elektronisches Klanggewitter, in dem von Zeit zu Zeit Strukturen und Klangmuster der Popmusik auftauchten. Im Studio wurde fast nichts eingespielt, die Aktionen und Konzerte wurden live aufgenommen, später dann Ausschnitte für Tonträger ausgewählt. Viele Vorführungen Throbbing Gristles und ihres Kreises fanden in ihrem Wohn- und Atelierhaus in Hackney in London statt, der Ort bekam bald einen Namen – in böser, ironischer Anlehnung an Andy Warhols Factory in New York wurde das Hauptquartier Death Factory[9] genannt.

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Die Gefilde der elektronischen Popmusik dominierten in den 70er Jahren inhaltlich vor allem technologische Fiktionen, Fantasy und andere Transzendentalien. Eine kleine Zahl Künstler fing damit an, eine gegenkulturelle Ästhetik der technischen wie industriellen Maschinen zu entwickeln. Sie setzten auf Rhythmus, auf endlose Wiederholung, auf Kreischen, Pfeifen, Hämmern, quasi als postmoderner Abgesang auf das industrielle Zeitalter, welches dem Technologie- und Medienzeitalter zu weichen begann. Man empfand die Kunstwelt als überkommen und sah im Projekt einer „Popband“ die Fluchtroute aus der wachsenden, eigenen Reputation in der als belanglos empfundenen Kunst. Die eigene Arbeit sollte so an eine breitere und heterogenere Öffentlichkeit adressiert werden, es fand ein bewusster, sehr postmoderner Schritt aus der Kunst in die Popkultur statt. Das betraf aber nur die Form ihrer subversiven Verkleidung. Denn Pop war im Fall Throbbing Gristles Maskerade für eine Arbeit zu Themen, welche durchwegs verstörende, verdrängte Phänomene wie Tod, Gewalt, Pornographie und Faschismus beinhalteten. Die dunkle Seite der Menschen und der Gesellschaft wurde ans grelle Licht der extremen Inszenierung geholt und hatte wie alle Antikunst zum Ziel, die Illusion einer homogenen Wirklichkeit als auch allgemeingültiger Moral- und Wertvorstellungen gründlich zu dekonstruieren.

Team Industrial Record, 1978 in London (Foto: Industrial Records Ltd.)

In der Popmusiklandschaft der 70er Jahre fand sich kein Verlag, welcher dermassen extreme Musik veröffentlichen wollte. Also wurde kurzerhand einen eigenes Musiklabel gegründet, Industrial Records, mit dem Claim Industrial Music for Industrial People. Zum Label stiessen schnell weitere Gruppen und Künstler: Monte Cazzaza, Cabaret Voltaire u. a. Es entstand innerhalb weniger Jahre eine eigentliche Subkultur um das Label und die Death Factory, wo regelmässig Gruppen, welche auf Industrial Records veröffentlichten, auftraten. Die sich schnell global ausbreitende, aber klein bleibende Szene entwickelte einen bohemistischen Lebensstil: es entstand analog zum Punk ein gegenkultureller Kleidungscode, welcher sich aus anderen Subkulturen und der Ästhetik verblichener Avantgarden bediente. Militarismus in Form von Uniformteilen und Springerstiefeln, selbst genähte und -entworfene Mode, Kleidungsstücke aus der S/M-Szene, Abbruchhäuser und Keller als Clubs, Motive aus dem dritten Reich, der Pornografie und der Psychiatrie auf Plattencovern – eine Ästhetik des Ausgegrenzten, des Desolaten und der Gewalt: Die Gegenwart sollte als Ruine modernistischer, totalitärer und kapitalistischer Konzepte und industrieller Produktion dargestellt werden.

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New Wave, Elektropop

Industrial floss in den 80er Jahren nach der Auflösung von Throbbing Gristle[10] quasi als unterirdischer Fluss unter der Popkultur in fast geheimgesellschaftlich anmutenden Zirkeln weiter. Ein Produkt auf der Oberfläche des Untergründigen war der in den 70er Jahren aufkommende Elektropop, welcher aber bis Ende dieser Dekade eher eine Randerscheinung blieb. Auch darum, weil die dafür benötigte Technologie (Synthesizer) immer noch relativ teuer war und erst um 1980 herum billigere Geräte auf den Markt kamen. Es blieb bis dahin ein paar besser gestellten Einzelfiguren vorbehalten, eine Techno-/Technologie-Ästhetik mit neuer Musikapparatur zu entwickeln, allen voran die Düsseldorfer Gruppe Kraftwerk, welche sich stilistisch aus Krautrock-Gefilden heraus entwickelt hatte. Kraftwerk waren in den 70er-Jahren aber eine ziemlich randständige Erscheinung mit ihren naiv anmutenden Technik- und Computerwelt-Texten, sah sich gerade die damalige Gegenkultur in bewusster Opposition zur Technologisierung der Welt. Tauchten im damals legendären Punk-Lokal Ratinger Hof in Düsseldorf [11] Bandmitglieder von Kraftwerk auf, wurden sie meist von den anwesenden Punkern verprügelt. Mit Elektropop bekam Pop in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ein nächtlich-kühles Gesicht: New Wave hiess die Pop-Bewegung, deren Ästhetik dem Neonlicht der Grosskapital-Metropolen entsprang und des Öfteren auf dem Friedhof ihre Residenz fand. Als ästhetischer Gegenentwurf zum welken Hippietum war nun Synthetik, Plastik und Melancholie gefragt, der Synthesizer begann die Popmusik der 80er Jahre zu prägen.

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Pop als Mainstreamkultur hat sich immer wieder beim Inventar der Hoch- und Subkultur bedient, im Fall von New Wave bestanden die Lieferanten des Öfteren aus Exponenten der Industrial-Kultur, zum Beispiel begannen Depeche Mode in ihren ersten kommerziellen Grosserfolgen wie Master and Servant oder Blasphemous Rumours mit Samples von Metall-Perkussion zu arbeiten, beeindruckt und beeinflusst von der apokalyptischen Baumaschinen-Musik der Berliner Band Einstürzende Neubauten. Stilprägend für die elektronischen Formen des New Wave und seiner deutschen Spielart Neue Deutsche Welle waren Gruppen wie Cabaret Voltaire, Joy Division (aus der später New Order wurden), Fad Gadget und der Plan sowie DAF; in der Schweiz waren es Grauzone, die Band von Stephan Eicher und seinem Bruder und ihr Riesenhit Eisbär sowie – grosse Ausnahmeerscheinung mit internationalem Erfolg – das Elektropop-Trio, später -Duo Yello, welches schon international die Charts stürmte, als man hierzulande bei seiner Nennung noch mit den Achseln zuckte.

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Sound und die Musik der Unbefugten

Einige Autoren der jüngeren Pop-Theorie sehen in den Strömungen der Pop- und Subkultur seit den 60er Jahren ein Aufgehen der künstlerischen Avantgarden in der Popkultur. Kontexte wie die experimentelle Musik, von Freejazz über Industrial bis zu neuesten Tendenzen in der digitalen Musik, werden zuweilen als „Wurmfortsatz eines alten, überkommenen Avantgarde-Gedankens“[12] bezeichnet. Auch wenn man dieser etwas arg fokussierten Sichtweise wenig abgewinnen kann, zeigt sich hier die eigentliche Problematik, die dem Begriff „Postmoderne“ inhärent ist. Wenn man von elektronisch erzeugter Musik ohne Text im Popkontext spricht, so ist damit eine ganzer, künstlerischer Kontext bezeichnet, eine „Sound Culture“, die sich zwischen den 80er- und 90er Jahren entwickelt hat, vorerst als kleine Gemeinde von Spezialisten, welche dann später in der „Soundflut“ von Techno aufging.

Doch was ist mit „Sound“ gemeint? Im englischen Wort „Sound“ ist gerade durch seine Verwendung im Deutschen und seiner Verortung im popkulturellen Zusammenhang mehr impliziert als im deutschen Wort „Klang/Geräusch“. Man spricht bisweilen von einer „Sound-Wende“[13] in den 90er Jahren, von einer Abkehr in der Popmusikkultur vom Song hin zum reinen Klang, zum Sound. Wie erwähnt haben grössere Bereiche der Popkultur spätestens mit 68 eine Politisierung durch die Linke erfahren[14] und somit dem Songtext eine zentrale Rolle zukam, wenn man Pop als Agitationsfeld einer linken Gesellschaftskritik verstand. Die Mitte/Ende der 80er Jahre eintretende Krise der Linken fand ihre Entsprechung in zunehmenden, ästhetisch-ideologischen Grabenkämpfen (etwa Rock vs. Techno) in der Popkultur. Sound war da die frische Brise, die jegliche ideologische Besetzung von Popkultur und Musik wegblies. Erste Exponenten dieser sich formierenden Klang- und Soundkultur (etwa Organum, :Zoviet*France:, Hafler Trio, das Label Selektion, in der Schweiz vor allem Voice Crack, Christian Marclay, G*Park, und weitere) arbeiteten an einem popkulturgeschichtlich sehr spezifischen Projekt, nämlich an der postmodernen/popkulturellen Ästhetisierung des Klangs, des Geräuschs und des ihn erzeugenden, technischen Instruments.

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Die „Epochalität des Technischen“[15] hielt als ästhetischer Faktor Einzug in grössere Bereiche der Popkultur. Dass der Fokus der Popmusik auf den reinen Sound gerichtet wurde, liegt einerseits in der Korrelation von technologischen und ästhetischen Entwicklungen: Ohne Synthesizer, Sampler und Personal Computer wäre die Geschichte wohl anders verlaufen. Auch fanden zu dieser Zeit Kontextüberschreitungen von Musikern/Künstlern statt, welche Kompositionspraktiken aus der Neuen Musik und der historischen Avantgarde der elektronischen Musik (etwa der Musique Concrète Pierre Schaeffers und Luc Ferraris, der Computermusik von Iannis Xenakis, der elektronischen Musik Stockhausens) für sich adaptierten und im digitalen Medium (Sampler, Computer) neu anwandten. Technologische Praktiken der akademischen Bereiche der Musik hielten Einzug in den lebensweltlichen Kontext einer Klang-Subkultur (zum Beispiel der Cut-Up/Schnitt von Tonmaterial zu einer Komposition, Klangbearbeitung am Computer, Klangsynthese usw.) – der Sound, seine sozialen und medialen Implikationen standen im Vordergrund, weniger seine technologische oder kanonische „Bauweise“. Man brauchte nicht mehr ein jahrelanges Kompositionsstudium, um eine zeitbezogene, „Neue Musik“ zu schaffen, man eignete sich Hintergründe, Handwerk und Gerätschaften über subkulturelle Kontexte selber an, es entstand eine Szene und Musik mit künstlerischem und intellektuellem Anspruch, eine „Musik der Unbefugten“[16], welche jenseits der Hochkultur, aber teilweise mit deren künstlerischen Mitteln arbeitete.

Digital Music for postmodern People

Industrial entwickelte sich während der 80er-Jahre vom Labelname zur Bezeichnung eines ganzen Musikgenres – nicht ganz unschuldig waren hier die Plattenläden: Man musste das Fach im Laden irgendwie anschreiben, und da lag für alles Extreme, künstlerisch Angehauchte, Elektronische die Bezeichnung Industrial nahe. Zuweilen waren in derselben Abteilung auch György Ligeti, Philipp Glass oder Arvo Pärt zu finden. Die Stilbezeichnung kam gegen die 90er hin in die Jahre, es begannen sich Subgenres zu bilden, es entstand ein eigentliches Bestiarium an Bezeichnungen abseitiger Musik. Das Ladengestell dafür hiess, ganz ernst gemeint, Post-Industrial – eine Blüte der sich postmodernen Theorien affirmierenden Musikrezension in Fanzines und Popzines Ende der 80er/zu Beginn der Neunziger Jahre: In der Post-Industrial-Abteilung fanden sich Musikstile wie Ritual, Noise, Power-Electronics, Dark Ambient, Electronic Body Music, kurz: EBM, Neofolk und viele weitere.

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Da viele Vertriebe und Plattenläden neben „Underground“-Musik auch Werke der klassischen und vor allem elektronischen Avantgarden führten (Zum Beispiel Karbon Musik in Zürich, A-Musik in Köln), entstand so etwas wie ein subkultureller Kanon des Experimentellen, der Sound Culture, denn auch hartgesottene Japan Noise-Fans hörten sich im Laden aufliegende CDs von Luigi Nono oder Iannis Xenakis an und lasen die Schriften Pierre Schaeffers. Ihnen gemeinsam war eine Neugier auf den noch ungehörten, neuen Sound, in vielen Städten überall in der Welt waren derart spezialisierte Läden Anlaufstelle für Forschungs- und Entdeckungsreisen von Jägern des Neuen genauso wie orientierungsbedürftiger Kunststudenten, und sie verfügten über Netzwerke, welche weit über ihre Ladentheke hinaus reichten. So gesehen sind die in den Plattenläden verbrachten Nachmittage der Brillenträger und Bleichgesichter der sich Anfang der 90er Jahre formierenden Klang- und Medienkunstszene eigentlich als unmittelbarer Kunst- und Musikunterricht zu werten, denn die wenigsten der Kunstakademien und noch weniger die Konservatorien vermittelten einen Zugang zu popkulturellen Kunst- und Musikpraktiken.[17]

Die Neue Improvisationsmusik findet ihre Fortsetzung seit den 60er Jahren über Generationen von Musikern bis heute – vor allem in den 70er/80er Jahren entstanden Spielformen mit elektronischen, oft selbstgebauten Gerätschaften und Instrumenten, (zu nennen sind hier P16.D4 aus Deutschland, Ralf Wehowsky, Bernhard Günter, in der Schweiz das Künstlerduo Voice Crack/Norbert Möslang und Andy Guhl, Nachtluft von Andres Bosshard, Günter Müller und Jaques Widmer) sowie Elementen aus der Rockmusik (Steamboat Switzerland, später Alboth!) und dem Jazz (Stephan Wittwer, Christian Wolfarth u. a.). Dieser Kontext gehörte mit zum Setting, aus dem heraus die experimentelle, elektronische und digitale Musik, die Sound Culture, entstand.

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Charakteristisch aber für die 80er- und die frühen 90er Jahre und vor allem den Stil und Klang der Werke und Künstler des Post-Industrial war der Sampler. Anfangs der 80er-Jahre für Bands ausserhalb der Liga von Depeche Mode und Yello völlig unerschwinglich, wurde aus dem schweren und wahnsinnig teuren Fairlight-Möbel ein kleineres, handlicheres und erschwinglicheres, japanisches Gerät. Es fand eine grosse Verbreitung, vorerst als Zitiermaschine von orchestralen Streicherklängen oder Paukenschlägen – schnell aber merkte man, dass sich jede beliebige Aufnahme damit wiedergeben und verändern liess: Die erste, digitale Medienmusik war geboren. Der grosse Unterschied zu der bis dahin bekannten und praktizierten elektronischen Musik war der, dass der Klang nicht über elektrische Klangerzeuger generiert wurde, sondern bereits existierende, aufgezeichnete Klänge über Prozesse der Transformation (Filter, Geschwindigkeit, Hüllkurve) neue Klänge generierten. Man kennt solche Arbeitsweisen in ihrem Ansatz aus der Musique Concrète, wo auf diese Weise mit Bandmaschinen gearbeitet wurde – der Aufwand für ein Stück war aber ungleich höher und die Gestaltungsmittel beschränkter. Der Sampler verfügte also über einige interessante technische Details, viel beeindruckender ist die Flut an medien- und kunsttheoretischen Überlegungen, die diese Technologie zur Folge hatte, Diskurse über Eklektizismus und Originalität finden ihre Fortsetzung innerhalb der digitalen Massenmedien bis heute. Zu erwähnen ist hier die Musik des Schweizer Trios Young Gods – den charakteristischen Sound dieser Band machten Sample-Loops von verzerrten Rockgitarren aus.

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Es gab schon vorher ein paar Sampler-Popformationen in der Schweiz, die es sogar in die Charts schafften, ich erinnere mich da an Touch el Arab mit Muhammar – das war ein echter, elektronischer Hit – und Projekt Matterhorn mit Muh, dessen klangliche Ausgangslage hier nicht weiter erläutert werden muss – Requiescat in pace. Wenn aber von Sampler- und elektronischer Musik in den 80er Jahren gesprochen wird, darf Unknownmix auf keinen Fall fehlen. Die Sängerin Magda Vogel, der Klangtüftler Ernst Thoma, Krautrock-Drummer Mani Neumeier und der Typograf Hans-Rudolf Lutz haben für ihre über 250 Konzerte in ganz Europa audiovisuelle Auftritte kreiert, welche der Visuals-Kultur des Techno einiges vorweggenommen haben; der Sampler als Zitiermaschine feierte bei Unknownmix kreative Urständ.

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Techno

Der Moment, in dem sich der Pop-Mainstream und seine Fransen wiederum neu formierte, war mit Techno gekommen. Stilistisch hatte sich Techno aus der Disco-Musik der 70er Jahre entwickelt (schon damals auch partiell elektronisch mit Giorgio Moroder und Donna Summer), er nahm über Acid-House und Electronic Body Music während der 80er Jahre vollends elektronische Gestalt an. Techno war eine Art Funktionalmusik für kollektive Rituale der Entgrenzung innerhalb der Party-Kultur der 90er Jahre mit ihren unzähligen Clubs und Raves. Techno trug auf seine Art der Zeit Rechnung, weniger über seine Message – denn Techno hatte ausser zweisilbigen Slogans keine Message – nein, Techno war irgendwie die grosse Party zum Schluss der popkulturellen Subkulturen und deren Utopien. Ein Schlussbouquet, das in einem bunten, elektronisch-digitalen Aufguss nochmals sämtliche Kategorien avantgardistischer Strategien und -Befreiungen eine Revue im Legoland passieren liess und urknallmässig eine Unzahl von Stilen und Genres in kurzer Zeitfolge hervorbrachte. Man initiierte Partylokale, Musiklabels, Massenraves ohne politische oder gesellschaftliche Ambitionen, Techno war die hedonistische Selbstbefreiung im Konsum, der Konsument erklärte sich zum Künstler (Phänomen DJ). Der Sound war im popkulturellen Hauptstrom angekommen, eine gute Zeit für Klangkünstler jeglicher Prägung und Vergangenheit, denn man hatte plötzlich Publikum, welches neugierig auf elektronische Klänge war, der kleine Kreis von Sound-Spezialisten bewegte sich für ein paar Jahre im Einzugsgebiet des Mehrheitsfähigen, des Mainstreams. Die Szenen waren flink und schnell, sich einen eigenen Markt nach alternativen Vorbildern zu schaffen, so schnell, dass die grossen Plattenfirmen nicht mitkamen und konsterniert mitanschauen mussten, wie das der CD gewichene Vinyl als Tonträgermedium über die DJs seine Renaissance in den Clubs und bei den Käufern erlebte. Überhaupt war Recycling das Stichwort der Stunde, denn die meiste Technomusik wurde mit alten, analogen Synthesizern produziert – der Science-Fiction-Look der Technokultur hatte von Beginn weg etwas Retrospektives, war ein Wiederaufnehmen von Motiven der Science-Fiction-Utopien des 20. Jahrhunderts.

Techno-Kultur verbreitete sich über Szenemagazine[18] und das entstehende Internet und eine junge, global äusserst mobile Generation. Doch ihre eigentliche Verbreitung fand die Technomusik vor allem in der in den 90er Jahren schnell wachsenden Clubkultur. Die aktuellste Musik hörte man im Club, nicht am Radio, die neuen Platten, der neue Sound traf anfangs oft auch mit einiger Verzögerung in den schweizer Plattenläden ein, es waren die DJs, die die neueste Musik aus den Metropolen Europas (Frankfurt, Köln) und Amerikas (Detroit, Chicago) mitbrachten und auflegten und nicht selten auch gerade selber einen Plattenladen eröffneten.

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Durch den Niedergang der klassischen Industrie, der Fabriken in den 80er Jahren in Europa und Amerika als Effekt der Globalisierung und der Digitalisierung der Industrie wurde viel Raum in den Städten und Agglomerationen frei: Unzählige Techno-Clubs und Partylokale entstanden in ehemaligen Industriearealen. Oft war es so, dass grosse Flächen von Clubs, freien Theatern oder Kunsthallen gemietet wurden und der Rest der Räumlichkeiten dann als Ateliers an Künstler, Grafiker, Webdesigner und Musiker vermietet wurde, es entstanden so richtige Konglomerate einer neu entstehenden Kreativ- und Kunstindustrie, jeder verdiente sein Geld irgendwie mi Medienproduktionen und vor allem viele innerhalb des und über das entstehende Internet. Eine ganze Generation von Freelancern entstand so parallel zu Techno: Die Musik wurde zum Soundtrack der New Economy.

Endnoten:

[1] Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses,
Frankfurt am Main 1994.

[2] Holert, Tom/Terkessidis Mark: Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin-Amsterdam, 1996, S. 12

[3] Groetz, Thomas: Kunst – Musik. Deutscher Punk und New Wave in der Nachbarschaft von Joseph Beuys, Berlin, 2002, S. 15

[4] Musikmagazine wie SPEX oder Testcard waren wichtige Plattformen für Autoren wie Diedrich Diederichsen, Tom Holert, Martin Büsser und Marc Behrens

[5] Holert, Tom/Terkessidis Mark: Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin-Amsterdam, 1996, S. 13

[6] Ford, Simon: Wreckers of Civilisation. The story of Coum Transmissions & Throbbing Gristle, London, 1999, S. 1.20

[7] Chris Carter formte mit Cosey Fanny Tutti das Duo Chris & Cosey, Peter Christopherson war musikalisches Mastermind hinter Coil, eines Duos mit dem verstorbenen Sänger und Perfomer Jhonn Balance

[8] Ford, Simon: Wreckers of Civilisation. The story of Coum Transmissions & Throbbing Gristle, London, 1999, S. 5.16

[9] Eine bewusste Provokation: Die Kombination von Warhol’s Factory und der Bezeichnung von Konzentrationslagern im 2. Weltkrieg

[10] Es wurde aus diesem Anlass von der Gruppe 1981 eine Postkarte verschickt, auf dieser war zu lesen: „Throbbing Gristle: The Mission is Terminated“

[11] Diese und weitere Anekdoten sind nachzulesen in: Teipel, Jürgen: Verschwende deine Jugend. Ein Doku-Roman über den deutschen Punk und New Wave, Frankfurt am Main, 2001

[12] Siehe hierzu Testcard #3: Sound, Martin Büsser: The Art of Noise/the Noise of Art. Eine kleine Geschichte der »Sound Culture« von Luigi Russolo bis John Cage, von Psychedelic bis Techno, Mainz, 2002

[13] Ebenda

[14] Rechtes Gedankengut war in den Subkulturen eher eine Randerscheinung, etwa in Nischen des Post-Industrial und in der Skinheadkultur

[15] Kleiner, Marcus S./Szepanski Achim (Hrg.): Soundcultures. Über elektronische und digitale Musik, Frankfurt am Main, 2003, S. 9

[16] Den Begriff prägte der Künstler Günter Brus 1972

[17] Das hat sich inzwischen geändert.

[18] Deutschland: Frontpage, Raveline, Groove, De:Bug, Schweiz: Forecast

Angaben zum Buch:

Bruno Spoerri (Hg.)
Musik aus dem Nichts
Die Geschichte der elektroakustischen Musik in der Schweiz

In Zusammenarbeit mit dem ICST Institute for Computer Music and Sound Technology Zürich
Chronos Verlag
2010. 416 S. 104 Abb. Mit CD-ROM. Geb. CHF 58.00 / EUR 47.50
ISBN 978-3-0340-1038-2

Teil II: Rizormorphe Klangsuche

Tape jam session pt.1: 1944 to 1959

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In 1932 the German-Austrian engineer Fritz Pfleumer invented the magnetic tape. Now it was possible to edit, cut, loop and mix and easier to change speed and pitch of recorded sounds – a breeding ground for artists who looked for new compositional techniques and who wanted to have the sound production entirely in their hands. But the pioneers of electronic music not only pressed and turned the buttons in the commonly known avantgarde-centres like Cologne and Paris. An insightful selection from 1944 to 1959, on the occasion of the 80th birthday of the tape.

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CAIRO 1944

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Maybe the earliest piece of electroacoustic tape music: The 23-years-old student Halim El-Dabh composed «The Expression of Zaar» with equipment borrowed from Middle East Radio in Cairo. He edited and modified chants of an ancient Egyptian «Zaar» ceremony recorded before and presented the 25 minutes long piece in an art gallery. (here: a 2 minute sample)

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PARIS 1948

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Pierre Schaeffer’s «Etude aux chemins de fer», the arranged trains-sounds that later became the first movement of his «Cinq études de bruits». The new technique for composition he called Musique concréte in contrast to abstract music.

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In 1949, Schaeffer met the composer Pierre Henry, here with the 45-minutes-long piece «Le microphone bien tempéré» for tape composed 1950/1951. They collaborated and founded 1951 the Groupe de Recherche de Musique Concrète (GRMC) in the Studio d’essai de la Radiodiffusion-télévision française .

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TOKYO 1951

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The composers Toru Takemitsu and Minao Shibata had the same idea at the same time as Pierre Schaeffer. With Sony’s magnetic tape recorder G-Type developed in 1949 tape compositions could reach a higher level of knowledge and expertise. These became institutionalized In 1950, when a group of musicians founded the Jikken Kobo electronic music studio. The first electronic tape music by this group: «Toraware no Onna» and «Piece B», completed in 1951 by Kuniharu Akiyama. YouTube as source is disappointing, but you can listen here to an example from much later: Toshiro Mayuzumi with «Mandara» (1970), from Electronic Panorama: Paris, Tokyo, Utrecht, Warszawa.

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COLOGNE 1951

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The Studio für elektronische Musik of the radio station WDR in Cologne was inititiated by composer and musicologist Herbert Eimert and is the first of its kind. With Karlheinz Stockhausen’s increasing popularity the studio became a prominent meeting point for international composers. In his work «Studie 1» from 1953 Stockhausen recorded and manipulated sinus tones on tape-recorders.

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Watch trailer of the documentary Ton Band Maschine about electronic music in Germany

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Dr. Werner Kaegi explains: Vom Sinuston zur elektronischen Musik

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NEW YORK 1952

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After experiments by John Cage, Morton Feldman and other members of the New York School from 1948 on, in 1952 the first Tape Music concert in the United States was presented by Vladimir Ussachevsky and Otto Luening. It included Luening’s «Fantasy in Space» using manipulated recordings of flute—and Low Speed. Later, the ampex tape recorder was purchased at the Columbia-University, where Ussachevsky and Luening founded the Columbia-Princeton Electronic Music Center in 1955 (?).

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MILAN 1955

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In these fantastic, nearly surreal videos, composer Luciano Berio demonstrates the Studio di fonologia Milano. This oasis of sound-experiments was founded in 1955 by Bruna Maderna and Luciano Berio, following the example of Cologne. With nine oscillators, various filters and other equipment , the presence of the technician Marino Zuccheri, the studio was the best equipped in the world at that time. Berio and Maderna introduced a new approach: they worked with both, concrete and synthetically produced sound material.

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«Ritratto di Città» by Luciano Berio and Bruno Maderna, text by Roberto Leydi, Voices: Nando Gazzolo and Ottavio Fanfani.

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EINDHOVEN 1956

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Kid Baltan and Tom Dissevelt in the Sound Laboratory in the famous room 30 of Philips Natuurkundig Laboratorium or NatLab in 1959, explaining how electronic tape music is made. The studio moved to the University of Utrecht at the Institute of Sonology in 1960.

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(1907-1997)
«Drei Schwärmereien» by Henk Badings for mixed choir and electronic music 1964

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COPENHAGEN 1956

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Else Marie Pade, active in the resistance during World War II, was one of the first women in electronic music. Inspired by Pierre Schaeffer she studied electronic music on the music acadamy. She and Holger Laurdsen organised an electronic sound studio at Radio Denmark, where she first realized the soundtrack for the radio drama «Looking for a ghost» and then in 1958 «Syv Circler», the first electronic composition in Denmark ever, and «Glasperlespillet»

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JERUSALEM 1959

Josef Tal at the Electronic Music Studio in Jerusalem 1965 (© Etan Tal)

Inspired by the studio in Cologne and the sound work by the New York School, Josef Tal in 1959 started to establish the Centre for Electronic Music in Israel at the Hebrew University. In 1961 his studio came up with a Multi-track, a new invention by Hugh Le Caine from the Columbia-Princeton Center For Electronic Music. There is unfortunately no music example.

Soundscapes to go

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Norient schaut auch abseits der Ski-Saison Richtung Österreich. Nach unserem Auftritt an den Wiener Musikfestwochen sind wir bei einem spannenden Soundscape-Projekt vom ORF musikprotokoll mit am Start. Reinklicken und mitmachen!

Im Projekt «Personal Soundscapes» kann jeder mitmachen. Mit dem vom ORF gelieferten Soundscape-App Klänge und Geräusche aus Deiner Umgebung aufnehmen, mit der Gratis-Software Audacity zu einer Soundscape-Komposition verarbeiten, und vielleicht schon bald im ORF gespielt werden. Viel steht bisher noch nicht auf der Seite – aber das kann ja noch werden.

Wir finden derzeit vor allem den «Wissensbereich» spannend. Dieser bietet Materialien zur Beschäftigung mit den Begriffen Fieldrecordings, Soundscapes, Soundmaps, Radiokunst, Musique Concrète und vielem mehr. – Eine Reihe von internationalen ExpertInnen und Ö1-JournalistInnen präsentieren in 10 Themenblöcken zahlreiche Audio- und Videofiles, Texte und Fotos. Unbedingt auschecken!

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Einige Videos aus dem «Wissensbereich»

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Mehr zu dem Thema gibt es im Norient-Dossier Soundscapes


Lärmende Stille

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Der zweite Teil der Serie Sonische Symptome, die mit «Noise» als sozusagen offensichtlichstes sonisches Symptom für die aktuelle Musikproduktion begonnen hatte, widmet sich «Ambient». Ein Genre, das keineswegs einfach als Gegenteil von «Noise» zu verstehen ist.

Brian Eno

Brian Eno

Nach dem Krach und Lärm seine Analogie; So zumindest die gängige Meinung über Ambient. Aber wer sagt, dass Ambient etwas mit Stille oder Ruhe zu tun hat? Hier geht es sicher nicht um «Selbstfindungsmusik» und nur in bedingtem Masse um esoterische Ansätze. Vielmehr wird Ambient in ein Ambiente überführt, das von Eric Saties «Musique d’Ameublement» zu Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu aktuellster Digitalmusik reicht. Brian Eno hatte mit seiner epochalen, der ersten auch so genannten «Ambient»-Platte «Music for Airports» (1978, AMB) mit seinem Statement, dass diese Musik «as ignoreable as intersting» sein solle, nicht nur alles gesagt sondern auch für ziemliche Ver(w)irrungen gesorgt. Kaum ein Genre ist so verballhornt und zersetzt worden. Und es ist eines, das durch die Entwicklungen innerhalb der elektronischen Musik wahrscheinlich so präsent wie nie zuvor ist.

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Eric Satie, Musique d'ameublement: «Tapisserie en Fer forgé», 1924

Eric Satie, Musique d’ameublement: «Tapisserie en Fer forgé», 1924

Archaische und ultramoderne Musikpraktiken

In seinem Buch «Noise» hatte Jacques Attali 1985 ein Setting entworfen, in dem der «gesellschaftliche Riss», der Innovationen zulässt und die morgige Musik für heutige Ohren einfängt, als «Rupture» bezeichnet. Dabei liess er die kommunikative und technisch vermittelte Komponente etwas aussen vor. Sie wird in dem höchst interessanten Kurztext «Aesthetics of Noise» (2002, Datanom) des dänischen Soziologen Torben Sanglind über den Strang Curd Duca hereingeholt. Wodurch gleich mehrere diskursive Brücken geschlagen werden: Mit den Serien «Easy Listening 1-5» (Normal, Plag Dich Nicht) und «Elevator Music 1-3» (Mille Plateaux) zwischen 1992 und 2000 wurde der gesellschaftlich-kommunikative Noise, Attalis «Rupture», mit beinahe schon transzendenter, innerer Stimmigkeit gebrochen, auf bemerkenswerte Weise den Forderungen Enos entsprochen und schliesslich die historische Ebene des Ambient über den Umweg Fahrstuhlmusik und speziell Muzak® miteingezogen.

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Noise in Attalis Verständnis steht prototypisch für den Fortschritt, während sein Konterpart, «silence» oder besonders «silencing», wohl am besten als gesellschaftliche Ruhigstellung begriffen werden kann. Allerdings würde man es sich zu leicht machen, zu glauben, dass Noise die Kampfzone ausweitet und Ambient gesellschaftliche Verhältnisse determiniert. Bruitistische Eskapaden sind praktisch per Definition mit einer nur geringen Halbwertszeit versehen. Die Schlagkraft von Ambient liegt eher in ihrer Ausgewogenheit und innerem Gleichgewicht, darin, dass man sich diese Musik erarbeiten muss. Ambient schliesst archaische mit ultramodernen Musikpraktiken kurz und berichtet mit den Mitteln des Status quo von der Frühzeit sozialer und technologischer Entwicklungen. Die Unfähigkeit zur Kommunikation und die Suspension der gesellschaftlichen Macht durch mittelmässige Musik sind durch Stille vielleicht nachhaltiger abbildbar als durch ihre Zerrfratze, den Noise.

Das Unerhörte dazudenken: Ambient als Fährtenleger

Wenn man die Augen schliesst, verliert man die Macht der Abstraktion. (Michel Serres)

Es gibt keine absolute Stille. Selbst in einem schalldichten Raum wie etwa einem Deprivationsbad dröhnen noch immer der Blutdruck und/oder das Nervensystem des eigenen Körpers in den Ohren. Stille als solche ist auch eine gefährliche Sache, weil man einen Orientierungssinn verliert, der evolutionär betrachtet überlebensnotweniger erscheint als nichts zu sehen.

Während Noise einen Totalangriff auf die Ohren fährt, fordert Ambient zum «aktiven Hören» auf und lässt dem Hörer Platz, im Hirn das akustische Spektrum zu vervollständigen. Ähnlich wie Techno gehorcht Ambient mehr funktionalen denn kompositorischen Kriterien. Ambient liefert nur Indizien und Settings sind bewusst so aufgebaut, dass die verwendeten Sounds individuell interpretierbar sind und es also kein allgemeingütiges Hörerlebnis gibt. Derartige Taktiken unterwandern das traditionelle Bild der hierarchisch-performativen Ordnung zwischen Musiker und Zuhörer, zwischen aktivem Spiel und passiver Rezeption. Denn Ambient stellt zwar einen Schlüsselreiz bereit, nicht aber das Decodierungsprogramm. Nicht umsonst wird Ambient gern unterstellt, über cinephile Qualitäten zu verfügen.

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Der Theoretiker und Musiker Michel Chion spricht in diesem Zusammenhang von einem «cinema pour l’oreille», einer nur ungenügend als «Kopfkino» zu übersetzenden Herangehensweise. Denn die aus der uns umgebenden Natur destillierten Klänge kartografieren ein onomatopoetisches Abbild oder einen sonischen Text von Welt. Im besten Fall liefert das Musikstück ein «Soundbild», das über die Beschaffenheit von Situationen Auskunft gibt und akustisch in Regionen vordringt, die nie ein Auge zuvor gesehen hat.

Der soziale Hintergrund und die Sozialisation der Musiker stellen einen weitern Gegensatz zwischen Noise und Ambient dar: Ambient war praktisch immer schon eine als «verintellektualisiert» wahrgenommene Musik, die sich nach den kathartischen Exzessen als logische Konsequenz gegen die Selbstzerstörung bei vielen Musikern einstellte. Fakt ist, dass die meisten Ambient-Musiker über einen relativ ausgeprägten Bildungsstatus verfügen und sich vornehmlich aus der Schnittmenge zwischen Akademikern und professionellen Autodidakten rekrutieren.

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Mit dem Beat hat Ambient nichts am Hut

Für sein bruitistisches Ballett «Parade» (1917) verwendete Eric Satie «aussermusikalische» Instrumente wie Schreibmaschinen, Pistolenschüsse, Sirenen oder Schiffmotoren. Wie Satie es audrückte, war seine «Musique d’Ameublement», als deren Kompression «Parade» dienen kann, eine Musik «zum Weghören». Allerdings erweiterte er bereits damals das akustische Spektrum um den «trivialen Gebrauchslärm», der den industrialisierten Menschen umgibt. Anders als der italienische Futurist Luigi Russolo, dessen Klangwerke fast zur selben Zeit in Italien auf ziemliches Unverständnis bei den Fachkollegen gestossen waren, war Satie in einen Kanon von Künstlern eingebunden, die von Claude Debussy bis Jean Cocteau und Man Ray reichten.

Dieser starke Impetus wurde, von seinen surrealistischen Implikationen entschlackt, nach dem Zweiten Weltkrieg von Pierre Henry und Pierre Schaeffer in der Musique Concrète weitergeführt. Diverse Arbeiten des spanischen Klangforschers Francisco López können als der Versuch gesehen werden, vor dem geistigen Auge akustische Bilder aus dem Regenwald einzufangen. Bei «The Crackling» (1996, Trente Oiseaux) von John Duncan/Max Springer werden die Sounds aus den Atomkernen eines Teilchenbeschleunigers extrahiert. Im Soundscape für den Film «Eraserhead» (1978) von Alan R. Splet überträgt sich das Rauschen im Kopf des Protagonisten auf die Tonspur.

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Die Mego-Debüt-12” «Fridge Trax» von General Magic & Pita machte 1995 mit seinem raffinierten Ambiente von Kühlschrank-Soundaufnahmen die Musique d’Ameublement Techno-kompatibel. Und mit den Klangstudien vom präparierten Klavier auf «Druqks» (Warp) waren Satie und John Cage von Aphex Twin 2001 digitalisiert worden.

Durch Ambient haben sich für aktuelle Musikpraktiken wie «Intelligent Dance Music» und «Electronica» Geräusch, Klang und Stille als tonangebende Paradigmen herausgestellt. Mit dem Beat dagegen hat Ambient nicht allzu viel am Hut. Was sie zu einer der modernsten Musiken macht, weil, wie wir von Kodwo Eshun wissen, dass die Zukunft beatfrei sein wird. Im Jazz finden sich sporadische Beispiele für eine ambienthaften «Soundozean», etwa «Goin’ Home» (1964) von Albert Aylers oder «Venus» von Pharao Sanders’ Debütplatte «Tauhid» (1967). Die beiden griffigsten Produktionen hinsichtlich der hier vorgeschlagenen Richtung von Ambient finden sich wohl bei «The Insect Musicians» (1986, Musique Brut) des ehemaligen SPK-Masterminds Graeme Revell oder bei «Nunu» (2003, Warp) von Mira Calix. In beiden treten spezielle Insektenarten als «Musiker» auf.

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Revell analysierte dafür eingehend das poetische «Musik» verhalten von Insekten: «Sie produzieren Geräusche, die weit über die Grenzen natürlicher Wahrnehmung hinausgehen: in ihrer Tonhöhe (meist zu hoch); in ihrem Rhythmus (meist zu schnell) und in ihren Klangfarben (meist zu komplex)». Die älteste Erwähnung eines Insektensongs stammt aus dem japanischen Sprüchebuch «Manyoshu» aus dem 8. Jahrhundert. Dort heisst es: «Als ich den Gesang des korogi (Grillenart) hörte, wusste ich, dass der Herbst gekommen ist.»

Erinnerungsströme

«Ocean of Sound» (1995) von David Toop war eines der ersten Bücher, das sich eingehend mit Ambient auseinandersetzte und das kreative Gewusel am Elektronik-Sektor zu dieser Zeit ein wenig einzufassen und zu verorten half. In der für Toop typischen Manier ging es dabei nicht um nerdige Genre-Spezifizierungen sondern den freifliessenden Sounds eine beschreibbare Matrize entgegenzustellen. Diese Ansätze wurden in «Haunted Weather» (2004) um ein Amalgam aus Stille, Erinnerung und Musik im Zeitalter ihrer digitalen Reproduzierbarkeit erweitert: «Digitale Kommunikation hat die Idee von Raum hin zur Konfusion beschleunigt, weshalb die Beziehung zwischen Sound und Space ein immens kreatives Forschungsfeld geworden ist», schreibt Toop in der Einleitung. Die Natur-Metaphern in den Titeln kommen nicht von ungefähr …

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John Cage und besonders sein Stück «Williams Mix» von 1952 werden immer wieder gerne als Grundlagen für Ambient zitiert. In diesem radikalen Stück wurden Klänge aus Fieldrecordings aus der Natur und vom Menschen verwendet und in mühevoller Kleinarbeit aus Tonbandschnipseln zusammengeklebt. Die kompositorischen Entscheidungen wurden mittels des I-Ging getroffen. Somit hatte Cage nicht nur das Sampling, sondern, in diesem Kontext wichtiger, mit der geistigen Erdung in asiatische Spiritualität und Philosophie ein Feld aufgerissen, in dem seit den 1960ern jede Menge drogengeschwängerte Scharlatane Ambient als geeignete Abflugrampe hin gen Selbsterfahrung sehen.

Dass derartige Avancen durchaus berechtigt sind, sieht man an der Rave-Szene der frühen 90er: Bands wie Orbital und The Orb schossen das Publikum in ein Paralleluniversum der Wahrnehmung und dockten so an das Tanzerlebnis des schamanistischen Rituals an. Ein Erlebnis, das den bis dahin eher «bildungsbürgerlich» geprägten Ambient auf den Dancefloor und auf die gesellschaftlichen Notwendigkeiten des Techno-Zeitalters ausweitete. Interessant konnte das ja wohl sein, aber ignorierbar? Wohl kaum.

Orbital

Orbital

An dieser Stelle kommen wieder «Beat» und «Repetition» ins Spiel. Dieser rein elektronische Ambient hatte weit mehr zu bieten als blubbernde oder zirpende Synthesizer-Sounds, die sich nach Wasserrauschen oder Vögelgezwitscher anhörten. Immerhin zeigten sich Einige so naturverbunden, dass sie Raves auf Bauernhöfen oder unter freiem Himmel veranstalteten oder gleich nach Goa auswanderten. Aber war und ist nicht auch im «regulären» Ambient die vermeintliche Natur eine synthetische? Vielmehr geht es darum, technisch induzierte Topografien zwischen Psycho-Geografie und Insektenschwärmen bereitzustellen, die von subliminalen Soundphänomenen herrühren und im kollektiven Unterbewusstsein abgespeichert sind. Das von seiten «klassischen» Ambients eingeforderte «Dazudenken» wurde durch die Tanzerfahrung nicht suspendiert sondern in den Körper rückprojiziert. Denn welche Erfahrung wäre archaischer als eben Tanzen?

Der Text ist erstmalig erschienen im Journal für Musik Skug 2006/07.

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Serie Sonische Symptome

Teil 1: «Ich mache Lärm und keine Musik» – Noise

Alternative Musik in Kairo: Aufbruch & Verwirrung

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Die alternativen Musikszenen in Kairo sind in den letzten Jahren stark gewachsen. Metal, Indie Rock, Punk, Rap, Elektronika, Mahragan - es sollen rund 600 Bands, Kollektive und DJs sein. Die Musikerinnen und Künstler erzählen, wie sie künstlerisch auf die politischen Umstürze in Ägypten reagieren und wo sie Chancen und Hürden für ihre Zukunft sehen. Der Artikel blickt zudem zurück in die Geschichte der alternativen Musik in Kairo: auf 1944, wo Halim El-Daph die Musique Concrète erfand; und auf die 1990er Jahre, in denen Metal-Musiker als Satanisten gebrandmarkt wurden. - Diese Reportage ist erschienen im Buch «Zeitgenössische Künstler aus der Arabischen Welt - Positionen 7», herausgegeben vom Goethe Institut Kairo und dem Steidl Verlag.

Egyptian Aliens im 100 Copies Studio (Foto: Thomas Burkhalter)

Egyptian Aliens im 100 Copies Studio (Foto: Thomas Burkhalter)

Vor der Revolution: Eine kurze Geschichte alternativer und experimenteller Musik in Kairo

„Ein Blick in die Musikgeschichte zeigt es: Mit die spannendste Musik ist in turbulenten Zeiten entstanden, etwa in Italien im 19. Jahrhundert.“ Mohammed Antar, 8.3.2013

1944 schleichen sich Halim El-Daph (*1921) und sein Freund Kamal Iskander in Frauenkleidern in eine Zar-Zeremonie, die traditionellerweise Frauen für Frauen ausführen. El-Daph nimmt das Heilungsritual mit einem modernen Drahtrekorder auf, manipuliert die Klänge im Studio und bringt sie in einer Galerie in Kairo zur Uraufführung. „The Expression of Zaar“ ist nicht bloß für Kairo revolutionär, sondern gilt heute als erstes Tondokument der Musique Concrète weltweit.

24 Jahre später, 1968, schreibt sich ein weiterer Ägypter auf die internationale Landkarte der modernen Musik ein. Der ägyptische Schlagzeuger Salah Eldin Ahmad Ragab (1935–2008), Major der Militärmusik, gründet die Cairo Jazz Band. Er experimentiert zwischen Eigenkompositionen und Free Jazz und musiziert unter anderem mit dem stilbildenden US-amerikanischen Sun Ra Arkestra.

Zur selben Zeit covert die ägyptische Band Wrong Notes den psychedelischen Rock- und Garagen-Sound aus den USA und England – nachzuhören auf den LPs Waking Up Scheherazade – und The Mass, The Black Coats und Les Petits Chats verarbeiten Riffs und Sounds des frühen Heavy Metal. Led Zeppelin nehmen in den Studios von Hany Mehanna in Giza auf, und Ritchie Blackmore von Deep Purple jammt mit lokalen Bands. Die Kairoer Szene wächst und wird vielfältiger. Anfang der 1990er-Jahre füllen Bands wie Terra, Andromeda, Steel Edge und Sidewinder Stadien. Sie werden von ägyptischen und multinationalen Firmen gesponsert, und sind Insidern in Europa und den USA bekannt. Fathy Salama mischt derweil arabische Musikstile, Jazz, Funk und Pop. Er nimmt 1991 sein Album «Camel Dance» beim Schweizer Label Face Music auf und tourt mit der Genfer Rockgruppe The Maniacs.

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WAKINGUPSCHEHERAZADE

Die große Wende kommt 1997. Die ägyptische Regierung brandmarkt Metal-Bands und -Fans als Satanisten und lässt Hunderte von ihnen verhaften (Norient Link: Podcast «Wir sind keine Satanisten» und Artikel «Metal in Egypt»). Die Regierung ist unter großem Druck von islamistischen Gruppierungen und will sie mit dieser Aktion wohl gnädig stimmen. Die Falschanklage trifft die Szene hart. Erst heute wächst sie langsam wieder zu ihrer damaligen Größe an.

„1996 spielten wir in Bars, auf Schiffen, ja sogar Open Airs. Wir kleideten uns wild und schmierten Make-up ins Gesicht. Die Regierung bekam Angst, sie sah die Bewegung größer werden, sah, dass Drogen im Spiel waren, sah den Status Quo gefährdet. Viele Musiker wurden verhaftet. Das war der Tod unserer Musikszene.“ Mahmoud Refat, 2003

2003, mein erster Besuch in Kairo (Norient Link: «Leise Musiker in einer lauten Stadt»). Der pan-arabische Pop ist omnipräsent. Videoclips von Popstars wie Amr Diab flimmern Tag und Nacht über die Bildschirme saudi-arabischer Satellitensender. Der ägyptische Präsident „Gamal Abdel-Nasser [1918-1970] wollte die Bevölkerung auf der Straße, die Saudis wollen die Bevölkerung auf dem Sofa“, schreibt der Journalist Andrew Hammond über die Satelliten-TV-Revolution und die Privatisierung der Medien in den 1990er-Jahren.

Der senegalische Trommler Mouhamadou Gaye, die Elektronika-Künstler Hassan Khan und Omar Kamel, die alternative Popband Wust el Balad und der armenische Fusion-Jazz-Musiker George Kazazian, sie alle klagen in meinen Interviews über zu wenige Auftrittsorte, die Zensur, fehlende Absatzkanäle und das Desinteresse der Medien. Fathy Salama hat soeben ein Jahr lang Anträge an das Kulturministerium und den Staatssicherheitsdienst gestellt und 10.000 ägyptische Pfund – rund 2.000 Euro – bezahlt: für die Lizenz zum Publizieren von Musik.

Auf der Nilinsel Manial el-Roda besuche ich auch Mahmoud Refat. Er experimentiert mit selbstgebauten Mikrofonen, nimmt Geräusche in der Stadt und auf dem Land auf, manipuliert sie und schafft neue Hörbilder – ähnlich wie Halim El-Daph fünfzig Jahre vor ihm. Mir gefällt sein sorgfältiger und gleichzeitig unkonventioneller Umgang mit Sound. Ich schlage ihn bei der Schweizerischen Kulturstiftung Pro Helvetia – ich saß damals im Stiftungsrat – für ein Residenzprogramm in der Schweiz vor. Dort arbeitet Refat mit dem Berner Klangkünstler Zimoun am Label-Projekt „Leerraum“, und kurz danach gründet er in Kairo 100Copies: Das Label steht heute im Zentrum der alternativen Musikszene (Norient Link: «100 Copies from Cairo»).

Mahmoud Refat, 2003 (Photo: Thomas Burkhalter)


 
Fathy Salama, 2003 (Foto Thomas Burkhalter)

Fathy Salama, 2003 (Foto Thomas Burkhalter)

Mahmoud Refat, 2013 (Foto: Thomas Burkhalter)

Mahmoud Refat, 2013 (Foto: Thomas Burkhalter)

2013 – Alternative Musik boomt wieder

März 2013. Zehn Jahre später recherchiere ich wieder zum Thema alternative Musik in Kairo – nachdem ich im April 2011 für Podcasts zum Thema Musik und Islam hier war. (Norient Link: «Islam und Musik in Kairo») Der Tahrir, Hauptschauplatz der ägyptischen Revolution von 2011, ist für den Verkehr geschlossen. Die Auswirkungen scheinen in der ganzen Stadt spürbar. Meine Planung war utopisch, denke ich bei einer der langen Taxifahrten. Vier bis fünf Musikerinnen und Musiker wollte ich pro Tag treffen, denn die alternative Musikszene ist explodiert. Metal, Indie Rock, Punk, Rap, Elektronika und vieles mehr, findet sich im Internet; es sollen rund 600 Bands sein, erzählt mir ein Musiker. Größe und Vielfalt ähneln derjenigen in Beirut. Die Beiruter Musiker sehen ihre Stadt als Zentrum der alternative Musikkultur in der arabischen Welt, die Kairoer Musiker beanspruchen dasselbe für ihre Stadt – das merke ich sehr bald. Mein Eindruck: Beirut hat mehr Labels, Festivals und Clubs, Kairo das größere Publikums- und Marktpotenzial (Buch-Tipp: «Local Music Scenes and Globalization – Transnational Platforms in Beirut»)

4. März 2013. Im Goethe-Institut treffe ich Tamer Abu Ghazaleh, einen sehr aktiven Musiker und Netzwerker. Spätestens seit Beginn der ägyptischen Revolution, sagt er, seien viele Ägypter auf die alternativen Musikszenen aufmerksam geworden. Das will er ausnützen:

„Der ägyptische Mainstream hat sich bis jetzt keinen Deut um neue Musik geschert. Es waren vorwiegend europäische Kulturförderinstitutionen und NGO, die uns unterstützten. Jetzt wollen wir zu einem grossen Teil selbstragend werden. 2007 haben wir das EKA3 Label gegründet. Bald waren wir auch Vertrieb und Konzertagentur, und heute lizenzieren wir unsere Musik für Filme und Werbung. Wir sind regional tätig, in Kairo, Beirut, Amman und Palästina.“ Tamer Abu Ghazaleh, 4.3.2013

Tamer Abu Ghazaleh (Photo: Thomas Burkhalter)


 

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Egyptian Aliens rehearsing in Cairo (Photo: Thomas Burkhalter)

Egyptian Aliens rehearsing in Cairo (Photo: Thomas Burkhalter)

Die Künstler, Musiker, DJs und Kulturinstitutionen arbeiten mit Vorliebe in der Innenstadt – und setzen so einen Kontrapunkt zur Stadtentwicklung; denn die Eliten ziehen gerne weg in die teuren Außenbezirke Heliopolis und Nasr City, oder in die neuen Satellitenstädte Madinet Sitta Oktobar und Madinet es-Sadat. Mahmoud Refat lebt jetzt in der Innenstadt. Nicht weit von seiner neuen Wohnung hat er den 100Copies Music Space eröffnet, Aufnahmestudio, Proberaum und Konzertclub in einem, dreihundert Meter vom Tahrir-Platz entfernt.

7. März 2013, ReTune Studio, 100Copies Music Space. Die fünf jungen Musikerinnen und Musiker der Band Egyptian Aliens proben mit drei Laptops, Keyboard, Schlagzeug und Schellenring. Bald soll die Musik prägnant genug klingen und dann auf Schallplatte veröffentlicht werden – die neue Vinyl-Schneidemaschine von 100Copies macht’s möglich, erzählt die Musikerin und Künstlerin Yara Mekawei:

„Seit fünfzehn Jahren wird in Ägypten kein Vinyl mehr produziert. Wir wollen diese Tradition jetzt neu beleben.“ Yara Mekawei, 7.3.2013

Artist Yara Mekawei (Photo: Thomas Burkhalter)


 
Sound-Performance von Ola Saad (Foto: Thomas Burkhalter)

Sound-Performance von Ola Saad (Foto: Thomas Burkhalter)

5. März 2013. Sound-Art-Performance in einem heruntergekommenen Wohnblock in der Innenstadt, im zehnten Stock. Ein rot-gelber Zwirbel dreht endlos auf der Leinwand. Ola Saad sitzt davor, starrt in ihren Laptop und entlockt ihm Geräusche und Klänge. Die meisten Zuhörer sind ostafrikanische Familien, die im Haus leben. Väter, Mütter und Kinder, denen diese Sounds und Bilder eher fremd erscheinen. Sie bleiben aber sitzen, diskutieren, lachen, sind vielleicht froh, dass etwas läuft. Nach der Performance rede ich mit Ola Saad über ihr Interesse an experimentellen Klängen und über die gewachsene Szene. Sie verweist auf Ahmed Basiony als Hauptinitiator. Er hatte seit 2006 an der Helwan-Universität, im Department for Art Education Workshops zu Sound Art durchgeführt. Sie und viele andere – die Egyptian Aliens etwa – hätten daran teilgenommen:

„Zum ersten Mal habe ich dank ihm mit Sound gearbeitet. Sound ist Kunst und Politik, das hat er uns gelehrt. Mit meinen Sound-Art-Performances will ich immer auch ihm gedenken.“ Ola Saad, 5.3.2013

Sound artist Ola Saad (Photo: Thomas Burkhalter)


 
Foto von Ahmed Basiony, Tahrir-Platz, 2011.

Foto von Ahmed Basiony, Tahrir-Platz, 2011.

2011: Musizieren auf dem Tahrir-Platz

„I have a lot of hope if we stay like this. Riot police beat me a lot. Nevertheless I will go down again tomorrow. If they want war, we want peace. I am just trying to regain some of my nation’s dignity.“ Ahmed Basiony, via Facebook, 26. Januar 2011, 22 h

Ahmed Basiony starb am 28. Januar 2011 an der Folge von Schussverletzungen, zugefügt von Scharfschützen der ägyptischen Polizeieinheiten auf dem Tahrir-Platz.

24. Januar bis 11. Februar 2011. Die Ägyptische Revolution auf dem Tahrir-Platz verfolgte ich via Internet und Fernsehen – und heute, nachwirkend, kann ich mir die vielen Dokumentarfilme anschauen, die produziert worden sind. Eine ziemlich neue Situation: hautnah dabei, aber ohne Angst um das eigene Leben. Im Netz erscheint der Tahrir-Platz als akustischer Jahrmarkt unterschiedlichster Geschmäcker (Norient Link: «Im Rhythmus der Revolution»): Muslime und koptische Christen halten ihre Gottesdienste ab. Männer und Frauen trommeln, klatschen und erfinden spontan Lieder – oft über den noch immer amtierenden Staatspräsidenten Husni Mubarak:

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Wer sind wir, und wer ist er? Wir sind Arbeiter und Bauern, und er ist der Dieb Ägyptens. Wer sind wir, und wer ist er? Er trägt die neueste Mode, und wir leben zu zehnt in einem Raum.

Medial entflammt ein Wettbewerb für die musikalische Hymne der Revolution. Die Band Eskenderella spielt Stücke von Sayed Darwish, dem 1923 verstorbenen Urvater des ägyptischen Protestliedes: „Um Ya Masri“ (Erhebe Dich, Ägypter), oder die von ihm geschriebene Nationalhymne „Biladi, Biladi“ (Mein Land, Mein Land). El-Tanbura aus Port Said erinnert an den anti-imperialistischen Widerstand im Suez-Krieg von 1956. Die Folk-Rock Gruppe Black Theama wirbt für die Kultur der Nubier, und die alternative Popband Wust el-Balad tritt wohl vor so vielen Zuschauern auf wie nie zuvor.

„Die Tage auf dem Tahrir-Platz waren die besten Tage meines Lebens. Auch wenn Menschen gestorben sind. Wir durchlebten die ganze Palette menschlicher Emotionen: weinen, lachen, in Panik wegrennen, keinen Schlaf finden, den Leuten helfen, feiern. Tag und Nacht waren wir da. Du triffst diese Gruppe, dann die nächste. Du siehst spannende Graffiti, freust Dich über eine Musik.“ Dina El-Gharib, 10.3.2013

10. März 2013. Ich treffe die Künstlerin und DJane Dina El-Gharib in ihrer Wohnung in Heliopolis. El-Gharib tritt seit vielen Jahren einmal pro Woche im After Eight auf, einem Club in der Innenstadt, den es schon 2003 gab. Im Januar und Februar 2011 sei sie hin und her gerannt, zwischen diesem Club und dem Tahrir:

„Ich legte alte und neue Revolutionslieder auf, und viele Musiker spielten ihre neuen Lieder auf der Bühne. Ich hatte immer gedacht, unsere Jugend interessiere sich nicht für Ägypten und wolle möglichst das Land verlassen. Und plötzlich waren sie alle da: Rapper, Liedermacher und Musiker. Alle kämpften mit ihren Liedern für unsere Freiheit. Sie sangen Lieder von Sheikh Imam und Sayed Darwish, aber auch von Umm Kulthum, Mohammed Abdel Wahab oder Abdel Halim Hafez. Ich war einfach nur glücklich, dass die jungen Leute diese alten Lieder noch kannten.“ Dina El-Gharib, 10.3.2013

Dina El-Gharib (Foto Thomas Burkhalter)

Dina El-Gharib (Foto Thomas Burkhalter)

Oh (Tahrir) Platz, dank Dir hört uns die ganze Welt, Du brachtest Nachbarn zusammen. Oh Tahrir, wo warst Du so lange. (Cairokee, „Ya Al Midan“)

Im patriotischen Port Said hat der Widerstand der Jugend die Besetzungsarmeen zurückgeschlagen. Gratuliere, Oh Gamal (El Tanbura, „Patriotic Port Said“)

Das Schicksal unseres Landes ist nicht in unseren Händen. Ägypten, Mutter der Wunder. Reichen wir uns die Hände und kämpfen (Sayed Darwish, „Ahu Da Illi Sar“)

Ramy Essam: aus dem Nichts zum Weltstar

Ramy Essam (Foto: Thomas Burkhalter)

Ramy Essam (Foto: Thomas Burkhalter)

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5. März 2013. Ramy Essam besucht mich im Goethe-Institut, gleich neben dem Tahrir. Er hätte einen allfälligen Preis für die Revolutionshymne schlechthin wohl gewonnen. Mit seiner Gitarre war er aus Mansoura, einer Stadt im Nil-Delta, angereist und hatte auf dem Tahrir-Platz spontan sein Lied „Irhal“ (Hau ab) erfunden. Schnell skandierten viele Protester mit:

Das Volk will den Sturz des Regimes. Wir werden nicht gehen, er soll gehen. Wir sind eine Hand und wollen eine Sache: Hau ab! (Ramy Essam, Irhal)

Mark Levine, Autor des Buches Heavy Metal Islam schickte die YouTube-Aufnahme des Liedes dem befreundeten Produzenten und multiplen Grammy-Gewinner Anton Pukshansky in Los Angeles. Der produzierte ein paar Beats und schickte das Audiofile zurück nach Kairo. Ramy Essam nahm Stimme und Gitarre in einem Studio neu auf, und seither ist er ziemlich berühmt. Die dänische NGO Freemuse („Free Musical Expression“) ehrte ihn mit dem Freemuse-Award, und Time Out setzte „Irhal“ auf die Liste der zehn wichtigsten politischen Songs aller Zeiten – nach Public Enemy („Fight the Power“), aber noch vor Sam Cooke („A Change is Gonna Come“), John Lennon („Imagine“) oder den Sex Pistols („God Save the Queen“).

„Mein Leben hat sich extrem schnell verändert. Ein Traum ist wahrgeworden. Ich fühle heute eine große Verantwortung den Demonstranten gegenüber. Sie wollen, dass ich ihre Anliegen mit meinen Liedern kommentiere. Das ist nicht einfach. Und die plötzliche Flut von Medienanfragen und Angeboten von internationalen Produzenten, die war kaum zu bewältigen.“ Ramy Essam, 5.3.2013

Ramy Essam lässt sich heute von einer Freundin managen. Ein Freund ist zuständig für den Webauftritt. Diesen beiden vertraut er:

„Viele sahen bloß noch das Produkt Ramy Essam. Sie wollten Profit schlagen und hätten mich wohl bald aufgefordert, nicht immer alle Leute vor den Kopf zu stoßen. Ich will aber meinen eigenen Weg gehen. Meine Lieder beschreiben die Demonstranten und die Leute von der Straße. Die reden und denken so. Ich werde das nie ändern. Irgendwann will ich eine Metal-Band gründen.“ Ramy Essam, 5.3.2013

Darf man die Revolution vertonen?

Maryam Saleh (Photo: Thomas Burkhalter)

„Ich kann mich nicht konzentrieren, mein Denken nicht abschalten. Normalerweise übersetze ich Erfahrungen aus meinem Alltag in meine Lieder, im Moment kann ich das aber nicht. Ich bin wie gelähmt. Meine Rolle als Musikerin war vor der Revolution sehr viel wichtiger. Ich habe provoziert und Fragen gestellt, die man nicht stellen durfte. Das war viel interessanter als heute.“ Maryam Saleh, 4.3.2013

Lasst uns die Heimat des Chaos verehren. So wenn wir ausgebeutet sind, dann brauchen wir nicht zu protestieren. Maryam Saleh, „Watan El 3ak“

Die Sängerin und Musikerin Maryam Saleh spricht für viele: Wie kann eine Künstlerin ein derart großes, einschneidendes Ereignis künstlerisch verarbeiten? Nach der Revolution sind genau darüber heftige Diskussionen entbrannt. Die Positionen sind dabei so unklar wie die politische Lage und Zukunft des Landes.

Maryam Saleh, Hussein El-Sherbini vom Elektronika-Kollektiv Wetrobots, Mahmoud Refat, Dina El-Gharib und Ramy Essam: Hier einige ihrer Antworten als Sammelkatalog:

„Ich singe von menschlichen Erfahrungen, nicht direkt von der Politik. Ich würde nicht versuchen, die Revolution zu dokumentieren, vor allem jetzt nicht, wo sie nicht zu Ende ist. Ich will sie ja nicht falsch dokumentieren. Ich bin heute vor allem Bürgerin Ägyptens.“ Maryam Saleh, 4.3.2013

„Nur weil ich Künstler bin, muss ich nicht die Revolution besingen. Ein Künstler sollte Künstler sein. Er sollte eine künstlerische Welt schaffen – ohne Richtlinien.“ Hussein El-Sherbini, 6.3.2013

„Das war die emotionalste Zeit meines Lebens. Diese Erfahrungen künstlerisch zu verarbeiten, habe ich schlicht nicht gewagt. Sie waren heilig, irgendwie, da kannst du nicht einfach einen Track draus machen. Mein Aufnahmegerät hatte ich auf dem Tahrir aber meistens mit dabei. Vielleicht werde ich die Aufnahmen irgendwann verarbeiten, ich weiß es nicht.“ Mahmoud Refat, 7.3.2013

„Viele Lieder wurden ad hoc erfunden und sind nicht für die Ewigkeit gedacht. Es ging um Redefreiheit und freien Ausdruck. Und darum waren diese Lieder wichtig.“ Dina El-Gharib, 10.3.2013

„Die Musik spielte auf dem Tahrir-Platz eine entscheidende Rolle. Sie half uns, durchzuhalten, uns zu motivieren, unsere Ängste zu besänftigen, uns überleben zu lassen.“ Ramy Essam, 5.3.2013

Von Märtyrer-Pop zu Elektro-Sha’abi

Kaum zu Wort meldeten sich während der Revolution die Stars der kommerziellen panarabischen Pop-Musik – das überrascht nicht. Wer im vor-revolutionären Ägypten ein Star sein wollte, musste sich mit den Herrschern gutstellen – auch die große ägyptische Sängerin Umm Kulthum war eng verbunden mit Präsident Gamal Abdel Nasser, was ihr in den 1960er-Jahren Kritik einbrachte. Tamer Hosny wagte sich als einer von wenigen Popstars auf den Tahrir-Platz. Er sprach sich für Präsident Husni Mubarak aus, musste dann aber vor den wütenden Massen fliehen. Später entschuldigte er sich im ägyptischen Fernsehen – er wollte wohl seine Karriere retten. Amr Diab, der größte Pop-Star Ägyptens, flüchtete im Privatjet nach England. Er galt als Gefolgsmann Mubaraks und hatte ihm Lieder gewidmet:

Er, der sich für sein Land aufgeopfert hat, um uns Licht zu bringen. (…) Seine Träume sind unsere. Der Nil fließt in seinem Blut. Er ist einer von uns. Amr Diab, „Wahed Mnenna“

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Nach der Revolution waren Amr Diab und viele Popstars auf Widergutmachung aus. Sie veröffentlichten, was Daniel Gilman „Märtyrer-Pop“ nennt (Norient Link: «Martyr Pop – Made in Egypt»). In ihren Videoclips besingen sie die Gefallenen der Revolution – die Demonstranten, aber auch die Polizisten und Soldaten. Der gesamte ägyptische Markt soll zurückgewonnen werden.

Das scheint nur bedingt zu gelingen. Der neue Massensound heißt Mahragan (Festival Musik) – manchmal auch Techno-Sha’abi oder Electro-Sha’abi genannt (Norient Links: «Electro Sha’abi: Autotune-Rebels in Cairo», «Missverständnisse erwünscht» und «On the occidental perception of Sha3byton»). Mahragan ist die digitale Variante des Sha’abi-Straßenpops. Sha’abi wird von den gebildeten Eliten gelegentlich als unkultiviert kritisiert, ist aber doch in der ganzen Bevölkerung beliebt. Einige Sha’abi-Sänger – etwa Hakim, Sha‘ban ‘Abd al-Rahim, oder Ahmad ‘Adawiyya – sind denn auch längst Mainstream-Stars. Sha’abi Lieder wurden auch auf dem Tahrir-Platz laut gesungen:

Das Leben ist wie eine Schaukel, mal rauf, mal runter. Einige Menschen leben gemütlich, andere gehören nicht zu den oberen Schichten. Amro El Saeed

Ich rauchte Hasch, Hasch, Hasch. Ich glaube, ich verlor mein Gleichgewicht. Ich wankte in der Gasse und ließ die Wäsche tropfen. Die Straße, die hinter mir war, liegt jetzt mir gegenüber. Mahmoud El Husseiny

Ich rauchte Schischa Kohle. Oh je, oh je, oh je. Das werde ich nie wiederholen. (…) Ich ging hinunter auf die Straße, bin durcheinander, weiß nicht mehr, wer rauf und wer runtergeht. Hoba

Mahragan basiert auf den Rhythmen des Sha’abi, speist dazu aber Effekte der elektronischen Musik ein und manipuliert die Stimmen der Sänger mit Autotune-Effekten. Die Stimmen werden in die Höhe gepitcht, wiederholt, hart geschnitten, sind mal musikalischer Effekt, mal Träger provokativer oder ironischer Botschaften. Mahragan greift den teuer und sauber produzierten pan-arabischen Pop an allen Fronten an. Gleichzeitig bedient sich die Musik einer Ästhetik, die international im Trend liegt: im Juke, Jersey Club und Ballroom House in den USA, Shangaan Electro in Südafrika, oder im New Wave Dabké des Syrers Omar Souleyman, der mittlerweile auch in der Musik des isländischen Popstars Björk Platz gefunden hat (Norient Link: «Weltmusik 2.0: Zwischen Spass und Protestkultur»). Während die Massen auf dem Tahrir-Platz gerne nostalgisch Lieder aus dem vergangenen Jahrhundert sangen, setzen die Mahragan-Sänger auf Geringschätzung, Humor und Sarkasmus. Sie besingen nicht – wie in ägyptischen Liedern üblich – Liebe, Sehnsucht, Schmerz und Verlust in poetischen Worten, sondern sie fluchen, werfen unvermittelt Slogans wie „Nieder mit dem Militär“ ein, um im nächsten Atemzug ironisch von den wahren Problemen der Leute zu singen:

Die Leute wollen fünf Pfund Telefon-Kredit DJ Amr Haha, DJ Figo, „Al-Sha‘b Yurid Khamsa Ginay Rasid“

Scheiße, ich habe meine Schuhe verloren. Scheiße, das waren doch Badelatschen. Scheiße, die waren doch noch neu. (…) Wie gehe ich jetzt in den Club? DJ Amr Haha, „Aha al-Shibshib Da‘“

„Morsico Systems“ von Ahmad Samih legt eine Rede des neuen Präsidenten Mohammed Mursi auf einen Sha’abi-Rhythmus und spielt mit seiner Stimme. Wenn Mursi behauptet, es gebe viel Unterstützung für sein Regime, wird er abrupt abgeschnitten. Eine Autotune-Stimme schreit: „Da ist ein Elefant!“ – ziemlich skurril.

Die Texte entstehen oft spontan. In einem YouTube-Live-Video setzt Mahragan-Sänger Sadat urplötzlich zu einer Kritik gegen die Fälle sexueller Belästigung an Frauen auf dem Tahrir-Platz an, von denen immer häufiger berichtet wird: «Wo ist Deine Männlichkeit? Du solltest die Frauen verteidigen und beschützen.»

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MC Amin (Photo: Thomas Burkhalter)

Sadat (Photo by Thomas Burkhalter)


 
Ich treffe MC Sadat in der Satellitenstadt Madinet Sitta Oktobar. Er trägt eingeflochtene Rasta-Haare, kotzt beim Interview einmal über den Balkon, ist aber ein netter Typ:

„Wir singen von Sex, Drogen und Politik. Wir singen über die Revolution, die Armee, über alles, was so passiert hier.“ Sadat, 8.3.2013

Mahragan wird seit 2007 an Hochzeiten und Festen gespielt, meistens in ärmeren Vierteln. Langsam wurde die Musik von der alternativen Künstlerszene entdeckt – etwa von Hassan Khan und Maurice Louca, die seit einiger Zeit mit Mahragan-Sounds experimentieren. 2012 war Mahragan dann im Programm des Downtown Contemporary Arts Festival (D-CAF), und seither sind Amr Haha (auch 7a7a), DJ Figo und Sadat, und auch Oka Wi Ortega alias Tamanya Fil Meya (Acht Prozent) regelmäßig live in der Innenstadt zu bewundern – zum Beispiel im After Eight. Die Jungstars produzieren heute Werbespots für große Firmen, und sie generieren Millionen von Klicks auf YouTube.

MC Amin, ein Urgestein des Rap in Kairo, will Mahragan jetzt mit Rap zusammenbringen. Ich treffe ihn bei Sadat in Madinet Sitta Oktobar:

„Ich rappe schon lange über die Schattenseiten Ägyptens, und die Mahragan-Künstler sprechen die Sprache der Straße. Sie produzieren den Sound des neuen Ägyptens, und sie haben eine riesige Fangemeinde. Rap und Mahragan zusammen gibt eine explosive Mischung.“ MC Amin, 8.3.2013

Die Revolution findet weiterhin statt, ohne Waffenstillstand. Ich sage es Euch direkt und klar: FUCK!! … Er regiert weiter, auch wenn wir ihn gestürzt haben. MC Amin, „El Wad3 Lazem Yet3’ayar“

Auch internationale Blogger, Produzenten und Festivals bekommen langsam Wind vom Mahragan-Trend.

Mahmoud Refat (Foto: Thomas Burkhalter)

Mahmoud Refat (Foto: Thomas Burkhalter)

Maurice Louca, Bandprobe mit Bikya (Foto: Thomas Burkhalter)

Maurice Louca, Bandprobe mit Bikya (Foto: Thomas Burkhalter)

Musikerstrategien 2013

„Es geht darum, mit wem möchtest du als Künstler arbeiten, und mit wem nicht. Ich würde im Moment nicht mit staatlichen ägyptischen Institutionen zusammenarbeiten. Das kann sich aber in wenigen Monaten wieder ändern. Es geht auch darum, was für ein Image du von dir als Künstler aufbaust und wofür du stehen willst.“ Hassan Khan

7. März 2013, ReTune Studio, 100Copies Music Space. „Alle sprühen derzeit vor Ideen,“ sagt Maurice Louca bei einer Probe der experimentellen Rockgruppe Bikya. Mahmoud Refat, der in der Band den Korg-R3-Synthesizer bedient, stimmt seinem Freund zu:

„Wir haben heute eine ungeheure Dynamik und Energie in Ägypten. Ich bin sehr glücklich über diesen Reflex. Lasst uns keine neuen Songs über die Revolution machen – wir haben genug davon. Aber lasst uns diese Energie nützen: Wir müssen arbeiten, spielen, aufnehmen, vorwärts gehen. Es gilt ein leeres Feld nach unseren Regeln neu zu gestalten. Jetzt oder nie! Alle warten sie auf neue Inhalte: TV-Stationen, Firmen – und die Ägypter. Alles soll neu und frisch sein.“ Mahmoud Refat, 7.3.2013

Seinen Enthusiasmus teilen nicht alle. Einige schwärmen von großen Werbeaufträgen und dem internationalen Interesse, andere klagen: Konzerte würden abgesagt und gerade für Livemusiker sei es schwierig, Geld zu verdienen. Bei einem Essen in der Wohnung von Mahmoud Refat rufen die eingeladenen Musikerinnen und Kulturförderer in den frühen Morgenstunden wild und uneinig durcheinander, nachdem ich vom Enthusiasmus einiger Musikerinnen und Musiker berichtet habe.

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Amro Salah (Foto: Thomas Burkhalter)

Amro Salah (Foto: Thomas Burkhalter)

4. März 2013, Café Picasso, auf der Nilinsel Zamalek. Amro Salah, Jazzmusiker und Organisator des Cairo Jazz Festival, ist glücklich, aber gestresst. Das Festival findet trotz den politischen Unruhen statt – aber bereits in einer Woche. Salah musste vielen internationalen Geldgebern absagen, erzählt er – zu viel Fördergeld, ein Novum für mich.

„Im privaten Sektor passiert im Moment sehr viel, in der Regierung nichts – aber das sind wir gewohnt. Unser Festival findet pünktlich statt, mit internationalen Künstlern. Es macht keinen Sinn, eine Revolution zu machen und dann die Party wegzulassen. Das Cairo Jazz Festival soll so wichtig werden wie dasjenige von Montreal. Wir wollen die große Geschichte des Jazz in Ägypten aufleben lassen. Miles Davis, Duke Ellington und Louis Armstrong haben hier gespielt! Viele Ausländer und Ägypter vermissen den Kulturplatz Kairo, wie er einmal war. Wir arbeiten daran!“ Amro Salah, 4.3.2013

Eine Stunde später treffe ich den populären Rapper Takki MTM, im selben Café. Ihm ist zum Klagen zumute.

„Vor der Revolution sind Musiker, Produzenten und Musikliebhaber aus der ganzen arabischen Welt angereist, um bei uns Songtexte und Kompositionen einzukaufen oder ganze Lieder zu produzieren. Dieser Musiktourismus bleibt jetzt aus, und das trifft viele Texter, Komponisten und Produzenten. Auf eine Musikerkariere kannst du im Moment nicht setzen. Ich war König, saß zuhause und ließ die Leute zu mir kommen. Jetzt arbeite ich in einer Werbefirma und muss schon am Morgen aus dem Haus! Andere benutzen mein Können, um ihre Produkte zu verkaufen.“ Takki, 4.3.2013

Ismael Hosny and Hussein El-Sherbini (Wetrobots) (Photo: Thomas Burkhalter)


 

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6. März 2013. Ismael Hosny und Hussein El-Sherbini vom Elektronika-Kollektiv Wetrobots haben ihr eigenes Epic 101 Studio im Stadtteil Doqqi aufgebaut (Norient Link: «Die Anthithese zur Revolutionsmusik»). Sie werden mit Aufträgen überschwemmt: Aufnahmen für andere Musiker und Sängerinnen, und viele Werbespots für Radiostationen:

Hussein: „Wir haben gerade Musik produziert für eine Kochsendung, für Toyota, und für einen Dokumentarfilm über Autorennen.“

Ismail: „Vieles auch für die Pharmaindustrie“

Hussein: „Genau, für die Schweizer Multis Novartis, Pfizer und Sanofi. Wir finanzieren mit diesem Geld unser Studio und unseren Lebensunterhalt. Manchmal hasse ich es, für diese großen Firmen zu arbeiten, es ist aber besser als irgendein anderer Job.“ Wetrobots, 6.3.2013

Internationale Plattformen

„Als Revolutionskünstler wäre es wohl einfacher. Wir müssten nur auf den Tahrir-Platz, dort mit unseren Laptops Musik machen, die Aufnahmen auf YouTube veröffentlichen, als Tags ‚Revolution‘, ‚Tahrir‘ und ‚Egypt‘ angeben, und die ganze Welt würde sich für uns interessieren.“ Hussein El-Sherbini, 6.3.2013

Die Wetrobots sehen sich nicht als Revolutionskünstler. Sie wollen einfach gute Musik machen und möglichst viel auftreten, im In- und im Ausland. Hussein hofft, dass die Szene in Kairo weiter wächst:

„Manchmal fühlen wir uns hier wie Außerirdische. Im Cairo Jazz Club rannte der Veranstalter kürzlich auf die Bühne und schrie, wir sollten sofort mit diesem Krach stoppen, die Leute würde den Club verlassen. Ein paar Wochen später spielten wir dasselbe Set vier Mal in der Schweiz: Die Leute tanzten ekstatisch!“ Hussein El-Sherbini, 6.3.2013

Im Ausland ist das Interesse an Musik aus Kairo derzeit groß. Das Mahragan-Rap-Projekt um Sadat und MC Amin wird im April 2013 beim Internationalen Festival Babel Med in Marseille auftreten und dabei vielleicht die europäische Weltmusik-Szene für sich einnehmen. Mahmoud Refat und Hassan Khan sind zu Solokonzerten beim renommierten Festival MärzMusik in Berlin eingeladen – sie kommen damit endgültig im illustren internationalen Kreis der aktuellen Musik an. Und gleich zwei Bands werden ans große Festival South by Southwest nach Austin in die USA reisen: das Elektro-Rap-Duo Quit Together der Sängerin Bosaina und des Produzenten Zuli, und die Rockband Massive Scar Era, mit ihrer Frontsängerin Sherine Amr.

Die neuen Metal-Bands und die Muslimbrüder

Sherine Amr (Foto: Thomas Burkhalter)

Sherine Amr (Foto: Thomas Burkhalter)

8 März 2013. Sherine Amr treffe ich im Vibe Studio in Doqqi. Sie ist Teil der wieder angewachsenen Metal-Szene, mit Bands wie Worm, Mascara, Scarab, Dark Philosophy, Stigma oder Ahl Sina. Massive Scar Era ist eine reine Frauenband, das sei aber mehr Zufall als Absicht. Sherine freut sich, macht doch die Metal-Szene heute auch international wieder auf sich aufmerksam:

„Seit der Revolution ist Ägypten im Fokus der internationalen Medien. Musik ist besonders spannend, weil die Muslimbrüder sie verbieten wollen. Metal fasziniert die Leute dabei ganz besonders, und wenn sie dann noch von einer Frauenband kommt … Wenn du Metal und Ägypten googelst, so kommt unsere Band sehr weit oben. Das ist unser Glück. Wir geben viele Interviews und spielen immer öfter im Ausland.“ Sherine Amr, 8.3.2013

Seit den ersten Wahlen sind in Ägypten die Muslimbrüder an der Macht. Immer wieder machen sich Gerüchte breit, sie möchten Musik verbieten – eine alte Geschichte: Seit den Anfängen des Islam im siebten Jahrhundert streiten Rechtsgelehrte und Theologen über Musik. Musik stehe im Widerspruch zu islamischen Prinzipien von Bescheidenheit und Sittsamkeit, behaupten ihre Kritiker: sie verlocke zu leichtem Zeitvertrieb, unmoralischem Tanzen, Trinkgelagen, verbotenen physischen Beziehungen und Prostitution, und sie halte die Gläubigen von ihren religiösen Pflichten ab. Das ist kompletter Unsinn, finden alle Musikerinnen und Musiker in Kairo, die ich treffe. Angst vor den Muslimbrüdern haben höchstens die Veranstalter, die Musiker aber nicht. Flötist Mohammad Antar, der sich seit Jahren mit islamischer Musik beschäftigt, spricht Klartext:

„Die Muslimbrüder kümmern uns Musiker nicht. Sie sind nichts. Sie haben mit den Muskeln gespielt, aber jetzt sind sie nur schwach. Sie können nicht einmal sich selber kontrollieren.“ Mohammad Antar, 8.3.2013

Mohammad Antar (Photo: Thomas Burkhalter)


 

Auch Yara Mekawei von den Egyptian Aliens mag nichts hören von den Drohgebärden:

„Ich bin Muslimin und trage Hijab. Die Muslimbrüder wollen unsere Gedanken verdrehen. Im Islam geht es um die Verbindung von deinem Herzen mit Gott. Keiner hat dazwischen etwas zu suchen.“ Yara Mekawei, 7.3.2013

Exit-VISA, fehlende Pässe und Künstlerlizenzen

Musikerinnen und Musiker brauchen bis heute Künstlerlizenzen von offiziellen Künstlersyndikaten, wenn sie auf einer öffentlichen Bühne oder in den Medien auftreten wollen. Tun sie das ohne Lizenz, kann ihnen ein Bußgeld auferlegt werden. Viele gehen dieses Risiko ein – für Rapper und Metal-Sänger mit ihrem typischen Growling-Stil gibt es die passende Lizenzkategorie sowieso nicht. Rapper bekommen dieselbe Lizenz wie Komiker: „Ich bin jetzt offiziell Komiker,“ erzählt Takki MTM. Sherine Amr will keine Lizenz beantragen: „Stell Dir vor, ich würde vor der Lizenzbehörde meine Metal-Stimme auspacken!“ lacht sie.

„Brauche ich eine staatliche Erlaubnis, um singen zu dürfen? Sie wollen uns kontrollieren, denn spätestens seit der Revolution haben sie Panik vor Liedermachern, Rappern und Rockbands.“

„Hast Du manchmal Angst?“

„Nein, sicher nicht. Ägypten hat größere Probleme als mich, die ohne Lizenz singt und dabei kein Geld verdient.“ Sherine Amr, 8.3.2013

Kummer bereiten Sherine Amr, Mahmoud Refat und anderen Musikern hingegen vor allem die Bestimmungen für Ausreisevisa. Die seien, finden sie, verschärft worden. Ob das wirklich stimmt, wissen sie nicht. So wie sie vieles nicht einschätzen können, was im Moment in Ägypten passiert. Klar ist der Fall beim Protestsänger Ramy Essam:

„In Ägypten brauchst du die Erlaubnis des Militärs, um auszureisen. Das Militär ist aber gar nicht gut auf mich zu sprechen. In den letzten zwei Jahren hätte ich dreißig Auslandtourneen organisieren können; das Land verlassen durfte ich aber bloß drei Mal. Und das nächste Problem kommt bald. Wenn ich in zwei Jahren mein Studium beende, muss ich zum Militär. Das wird der größte Albtraum meines Lebens.“ Ramy Essam, 5.3.2013

Islam Chipsy in Markez Nightclub, Cairo (Photo: Thomas Burkhalter)


 

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10. März 2013, 18 Uhr. Im Markez-Nachtclub treffe ich den Keyboarder Islam Chipsy. Die Bauchtänzerinnen und Animierdamen trinken noch Kaffee. Wir ziehen uns zum Interview in die Garderobe zurück. Islam Chipsy hat international via YouTube und TV-Kurzportraits – etwa auf ARTE – für Aufsehen gesorgt. Er spielt auf seinem Keyboard Sha’abi, Mahragan, panarabischen Pop und arabische Kunstmusik. Er tut das aber mit rasender Geschwindigkeit, größter Virtuosität, radikal queeren Sounds und extravaganter Gestik. „Jeden zweiten Monat überrasche ich die Leute mit einer neuen Spieltechnik,“ erzählt er, und muss selber schmunzeln. Der Spaß hört allerdings schnell auf: Islam Chipsy hat keinen offiziellen Pass. Er ist gefangen im eigenen Land. Auch er hätte in Europa und den USA auftreten können. Ein Japaner hätte ihn sogar eingeladen, mit seiner Frau in Japan zu leben. Was denn sein größter Traum sei, frage ich ihn:

„Mein Traum ist ein Pass. Ich will reisen, meine Musik zeigen und weiterentwickeln. Ich lebe für meine Musik.“ Islam Chipsy, 10.3.2013

 

 

Taking pictures of Bikya (Photo: Nadia Mounier)


 

 

Zeitgenössische Künstler aus der Arabischen Welt – Positionen 7

Diese Reportage ist erschienen im Buch «Zeitgenössische Künstler aus der Arabischen Welt – Positionen 7», herausgegeben vom Goethe Institut Kairo und dem Steidl Verlag.

zeitgenoessische-kuenstler-aus-der-arabischen

 

 

Bücher von Norient zum Thema Musik in der arabischen Welt

Burkhalter, Thomas. 2013. Local Music Scenes and Globalization – Transnational Platforms in Beirut. New York: Routledge.

Burkhalter, Thomas, Kay Dickinson, Ben Harbert (Herausgeber). 2013. The Arab Avant Garde: Musical Innovation in the Middle East. Middletown: Wesleyan University Press

ArabAvantgardeThomasBurkhalter


 

 

Vinyl und Digital-Release: «Sonic Traces: From the Arab World»

This limited vinyl offers music, sounds and noises from the Arab World: Propaganda music by political groups and clans, psychedelic Arabic Rock from the late 1960s and 1970s, the noises of bombs and machine guns, synthesized Electro-Sha’bi from Cairo, old and rare shellac recordings, Death Metal, Rap, Electro-Acoustic Music, and Musique Concrète. Collected and mixed by the Norient collective. The release comes in two versions: limited mix edit (on vinyl via Traversion) and radio edit (digital download via bandcamp). All Info Here.

sonictracesarabworld2013

«Konzepte zählen, nicht die Personen»

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Forschungsstationen angewandter Soundphysik: Vergangenen Herbst haben Dopplereffekt Tetrahymena veröffentlicht. Es ist die erste Platte des Elektronikprojekts seit sechs Jahren. Das österreichische Journal für Musik skug traf das Duo beim Heart of Noise Festival im Mai 2013 und sprach mit den beiden über Elektronische Musik, Wissenschaft und Facebook. Dabei bleibt das Duo so kryptisch wie eh und je und streut kräftig Zeichen, ohne dabei Spuren zu hinterlassen.

Dopplereffekt – Tetrahymena (Leisure System 2013)

Dopplereffekt – Tetrahymena (Leisure System 2013)

«Im akusmatischen Zeitalter gibt es nichts zu sehen
ausser dem Sound in seiner Nichtidentität.»
Kodwo Eshun

«Unsere Technologie zwingt uns dazu, mythisch zu leben.»
Marshall McLuhan

Der Stadtsaal in Innsbruck ist voll, als Dopplereffekt die in tiefes Blau getauchte Bühne betreten. Einer der Headliner des Heart of Noise Festivals 2013 spielt eines seiner raren Konzerte. Ganz rar ist, dass beide vorher ein Interview gaben: Persönliche Gespräche mit dieser um 1995 gegründeten Formation kann man an wenigen Fingern abzählen. Namen tun im Weiteren zwar nichts zur Sache, nennen wir sie trotzdem To Nhan und Heinrich Mueller.

Dopplereffekt war einige Jahre lang eines der Neben- und dann Folgeprojekte von Drexciya. Der frühzeitige Tod des zweiten Drexciyaners 2002 brachte Muellers Identität etwas ans Licht. Aber weiterhin ist über ihn so gut wie nichts bekannt. Dabei gibt es nur wenige, die die Techno- und Elektronikmusik so umfassend geprägt haben wie er. Eine Spurensuche.

Foto: © Daniel Jarosch

Foto: © Daniel Jarosch

Die Dämmerung von Dopplereffekt

«Dopplereffekt ist eine audiovisuelle Einheit. Sie beinhaltet alle Aspekte der Kommunikation als Medium», macht Mueller gleich zu Beginn klar. «Was verwendet wird, hängt davon ab, wie signifikant bestimmte Konzepte über Kultur und Gesellschaft für uns sind». Nhan ergänzt: «Wir beschäftigen uns mit wissenschaftlichen Inhalten wie Physik, Quantenmechanik, Biotechnologie, maschineller Interaktion oder Übertragungsmedien, die audiovisuell fusioniert werden. Musik und Videos geben den momentanen Forschungsstand wider.»

Offensichtlich bezieht sich Dopplereffekt auf Christian J. Doppler. Der Salzburger Physiker beschrieb Mitte des 19. Jahrhunderts den nach ihm benannten kinematischen Effekt, wonach ein sich in Schallgeschwindigkeit fortbewegendes Signal in Abhängigkeit zum Abstand von Sender und Empfänger gestaucht beziehungsweise gedehnt wird. Für den technologieaffinen Heinrich Mueller konnte es also keinen besseren Namen geben.

Als Projekt demonstriert Dopplereffekt die «technologischste» Ausprägung der vielen Inkarnationen von Heinrich Mueller. Andere sind Der Zyklus, Arpanet, Japanese Telecom, Zerkalo, Black Replica oder Zwischenwelt (letztere beiden könnten als «Gothic Electro» durchgehen), vorangegangene waren Flexitone, Glass Domain oder eben Drexciya. Aufnahmen der frühen 1990er Jahre lassen sich als immer wieder prominent von House traversierter Electro Funk zusammenfassen. Die ersten Dopplereffekt-Platten erschienen auf dem eigenen Label Dataphysix Engineering und wurden großteils für die Compilation Gesamtkunstwerk neu aufgelegt. Dieser Name hält sich bis heute: So existiert nach wie vor eine Informationseinheit rund um Dopplereffekt unter der Bezeichnung Dataphysix. Zu dieser Zeit benutzte Mueller auch das Pseudonym Rudolf Klorzeiger.

Einerseits definierte er als Der Zyklus mit Tracks wie «Die Dämmerung von Nanotech», «Elektronisches Zeitecho» oder «Formenverwandler» auf den 1998 und 2000 von Gigolo Records veröffentlichten EPs Tonimpulstest und II einen Sound, der entlang der Technoachse München–Berlin–Detroit für Furore sorgte. Andererseits galt Drexciya als Gründungsmythos der zweiten Welle des Detroit Techno ab den mittleren 1990er Jahren und hatte mit Tonträgern auf Underground Resistance, Tresor oder Clone eine ebenso große wie eingeschworene Fangemeinde – siehe zum Beispiel den Blog «Drexciya Research Lab» des Wissenschaftlers und Musikers Stephen Rennicks: eine wahre Goldgrube an Informationen.

Drexciya war das bislang zwingendste Resultat afronautischer Um- und Überschreibungen der Technovisionen von Kraftwerk. Höflich aber bestimmt sagt er: «Keine Fragen und keine Antworten dazu. Jedes Projekt folgt seinen eigenen Ausrichtungen. Eine Vermischung ist für mich nicht zielführend.»

Sciene ± Bio ↔ Fiction

So ziemlich jedem Detail des Mueller’schen Klanguniversums ist ein «angeblich» voranzustellen. Dieser willentlich kryptische Raum kann zwar von aussen mit allem Möglichen befüllt werden. Gleichzeitig aber ist sein Beharren auf seiner «Nichtidentität» nur konsequent, weil, so Mueller, «ich glaube, dass es zwischen Produzent und Beobachter eine Grenze oder eine Pufferzone geben muss. Das hat technische Gründe: Man will ja den Fokus des Beobachters darauf halten, was man produziert. Die Person hinter dem Kunstwerk ist für mich zweitrangig, wichtig ist das Werk als solches. Wenn man dem Künstler zu viel Aufmerksamkeit gibt, verliert man die Perspektive auf das Werk. Es entsteht der gegenteilige Effekt: Die Aufmerksamkeit wird eher zu einem Personenkult als zu einem progressiven Ideen-Set über das Werk. Dann fangen biografische Details an, interessant zu werden. Was den kreativen Akt auf beiden Seiten jedoch zerstört. Für mich persönlich bedeutet dieses ‹Rausnehmen› aus der öffentlichen Wahrnehmung beziehungsweise die grösstmögliche Anonymität, Dinge in ihrer Balance zu halten.»

Womit man mitten ins von Mueller virtuos betriebene Vexierspiel geworfen ist: Es ist die Ambivalenz des frei in Raum und Zeit rasenden autonomen Signifikanten aka der Künstlerpersonalität, die penibel darauf bedacht ist, heftig Zeichen, aber keine Spuren zu hinterlassen.

Foto: © Daniel Jarosch

Foto: © Daniel Jarosch

Im Vergleich zur letzten Scheibe Calabi Yau Space (2007, Rephlex) hat sich mit Tetrahymena Dopplereffekts Fokus von mathematischen auf biologische Systeme verschoben. Eine Theoriebrücke schlägt das 2004 als Der Zyklus herausgebrachte Album Biometry, bei dem biometrische Vermessungstechniken forschungsleitend waren. Die Verklausulierung der Bezugssysteme schraubt sich bei Tetrahymena wie eine Doppelhelix um die Destillate der aktuellen High-Tech-Gesellschaft. Der Einzeller Tetrahymena spielt wegen seiner zwei Zellkerne eine wichtige Rolle in der biomedizinischen Forschung. Dopplereffekt ist nichts weniger als die Aufschlüsselung des sonischen Quellcodes, derzeit in Laborsituationen der Biotechnologie: «Keine Theorie ist zu abstrakt, als dass sie nicht zu einem Faktum werden könnte. Laser, künstliche Intelligenz, das Internet, Gentechnik oder Mondfahrten wurden früher als Science Fiction belächelt. Heutzutage sind sie Allgemeinplätze.»

calabi_yau_space

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So nennt sich auf Tetrahymena ein Track «Gene Splicing» und auf dem Cover ist eine unendliche Abfolge der Buchstaben T, A, G und C abgedruckt – die DNA-Basen beziehungsweise kleinsten akustischen Einheiten (siehe Cover am Anfang des Posts). Die Nummer «Zygote» schliesst an das analoge Pulsieren der Zyklus-Platten an: ein Miniatur-Soundtrack über ein dystopisches System, bei dem unbestimmt bleibt, ob es mit einem anderen verschmolzen oder heruntergefahren wird.

Gegenbezeichnungstechniken

In seinem 2001 erschienenen Buch Hellblau erwähnt Thomas Meinecke die zwei Jahre zuvor auf dem Münchner Label Gigolo erschienene Zusammenstellung Gesamtkunstwerk. Damit wird Dopplereffekt nach wie vor am öftesten assoziiert. Nummern wie «Master Organisation», «Denki No Zuno», «Voice Activated» und vor allem der melodiöse Electrosound in «Scientist», der sexy Roboterdisco-Funk von «Pornoviewer» mit seinen sleazy Vocals oder «Sterilization» als quasi der Fluchtpunkt liefern Referenzlinien bis heute: damals Electroclash genannt, derzeit Minimal Wave. Und in zahlreichen DJ-Mix-Compilations vertreten, von Electro Boogie – The Tracks (1999) von Aux88, The Next Step Of New Wave (2000) von The Hacker und Fear And Loathing 2 (2005) von Luke Slater bis zu Electronic Beats (2012) und der vom Münchner Musiker/Produzenten Mooner zusammengestellten Compilation Elaste Vol. 4 (2013). Hier werden deutscher Expressionismus, beschleunigte Vergangenheit und hyperverkörperlichte Zukunft mit internationalen Dancefloors in eine Gleichung gebracht.

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Eine unbekannte Grösse blieb jedoch. Auf der Coverrückseite war als Motto abgedruckt: «Biological socialism leads towards victory». Eine der Nummern hatte ursprünglich «Rassenhygiene» geheissen, wurde aber von DJ Hell vorsorglich umbenannt. Und überhaupt der Name Heinrich Mueller – auch wenn er für die Platte als Rudolf Klorzeiger firmierte: Als Gestapo-Chef war der «echte» Heinrich Müller für die Organisation des fingierten Überfalls auf den Radiosender Gleiwitz zuständig gewesen, der den propagandistischen Vorwand für den Polenfeldzug lieferte. Seit Kriegsende gilt Müller als verschollen, zahlreiche Legenden ranken sich um sein Verschwinden. 1963 spekulierte der Spiegel darüber, dass es seitens der Amerikaner Pläne gegeben hätte, ihn nach dem Krieg wegen seiner entsprechenden Kenntnisse für antikommunistische Abwehr einzusetzen. Gleichzeitig inszenieren sich die beiden Bandmitglieder auf dem Gesamtkunstwerk-Coverfoto so, als sässen sie dem ZK einer klandestinen Revolutionspartei vor, umgeben von Hammer und Sichel.

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Mit Meinecke gefragt: Hat Techno eine Rasse? Weiter gedacht: Was passiert, wenn deutsche Mittelstand-Kids zu Vocoder-Lyrics wie «We had to sterilize / the population» tanzen, produziert von einem Afroamerikaner? Mueller schweigt dazu. Weniger sind es Dekonstruktionen ambivalenter Faschismusikonografien wie etwa bei Laibach, bei Dopplereffekt werden noch am ehesten Zeichen einer gewissermassen darwinistisch gedachten Präzision daraus. Oder wie es Slavoj Žižek in seinem Buch Der Mut, den ersten Stein zu werfen formuliert: eine «Säuberung, die vermittels einer gewaltsamen Beseitigung aller Hüllen die Isolation des Kerns des Realen anstrebt». Bei allen problematischen Implikationen lässt sich festhalten, dass das Geniessen des (grausam) Realen immerhin eine bestimmte Politisierung mit sich bringt. In diesem Kern werden Biologie und Technologie zu einem evolutionären Fortschreiten als Rasse deklariert, die die Verbesserung jeglichen Denkens und Handelns propagiert und sich ent-individualisiert einem grösseren Ganzen – der Rationalisierung – unterordnet.

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Dopplereffekts oft orchestral breit ausladende Nummern erzählen nicht von der in Jazz gefassten Erfahrung der Massenproduktion durch das Fliessband sondern von der Aneignung von Technologie als als Ideengeschichte. Auch die Platte Tetrahymena ist voll davon mit ihren sich ineinander morphenden Bedeutungsebenen zwischen Pharmazeutik, Mutationen und Kampfstoffen. In dem konspirativen transatlantischen Verhältnis zwischen Deutschland und den USA stellt Technologie – personifiziert im Detroiter Autoindustriegiganten Henry Ford – eine «mythische», höchst zwiespältige Verbindungsklammer her: Ford war daran beteiligt gewesen, aus Detroit die «Motorcity» zu machen, er führte die Fliessbandarbeit ein und 1938 wurde ihm von den Nazis ein Verdienstorden verliehen. Alles andere als friktionsfrei also das Ganze.

Nachsatz: Es gibt einen anderen «relevanten» Müller, nämlich Johann Heinrich. Der deutsche Physiker und Mathematiker forschte Mitte des 19. Jahrhunderts unter anderem zu ultravioletter Strahlung und der thermischen Wirkung des Sonnensprektrums. Auch wenn diese Verweispfade durchaus ihre konzeptionelle Berechtigung haben, spricht eher wenig für eine derartige Interpretation. Auf der 2007 von Clone herausgebrachten Neuauflage der Platte war dieses (wohl zu verfängliche) Motto vom Cover schliesslich getilgt worden.

Im Teilchenbeschleuniger

Der Zufall in der Quantenphysik ist nicht ein subjektiver,
er besteht nicht deshalb, weil wir zu wenig wissen, sondern er ist objektiv.
Anton Zeilinger

Seit jeher war im Detroit Techno eine Black Secret Technology fundamental präsent. Während sich dort Techno immer wieder mit Jazz überkreuzte, ging Mueller mit Dopplereffekt in Richtung europäischer Elektroakustik und Musique Concrète – siehe etwa den 20-Minuten-Soundscape «Photo Injector» auf auf dem Album Linear Accelerator (Gigolo, 2003). Arpanet und Japanese Telecom dagegen behandeln Technologie zwischen Internet und Simulationssex und liefern veritable Hits wie «NTT DoCoMo», «Probability Densities», «Cigarette Lighter» oder «Virtual Geisha». Danach gefragt, wie er zu seinen Tracks kommt, antwortet er: «Elektronische Musik ist eine Form des globalen Austauschs. Sie ist ein universelles sonisches Medium, das jenseits bestimmter kultureller Ausprägungen steht».

Linear Accelerator errichtet Gratwanderungen zwischen Klangimprovisationen und dezenten Dance-Anleihen; ein ziemlich runderneuertes Setup, das Afronautik nur noch molekular mitnimmt und am ehesten an PanSonic oder Chris & Cosey denken lässt. So kann «Niobium Resonators» als eine der schlüssigsten Nummern für Dopplereffekts experimentellen Mikrobereich gelesen werden, die gut viertelstündige Klangstudie zwischen Futurismus- und Industrialkomplexen würde sich als Update von Throbbing Gristles «IBM» anbieten. In gewisser Weise friert «Niobium Resonators» die vom Detroit Techno eingeforderte Technologie – von Alvin Toffler über Cybotron bis Underground Resistance – nun in einem durchrationalisierten, nur noch reinen Technologiestadium als dessen Überaffirmation fest. Und verabschiedet sich von Sun Ras Saturn und dem «Mothership» von Parliament/Funkadelic. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus?

linear_accelerator

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Mit dieser Platte und dem Nachfolger Calabi Yau Space dringt Dopplereffekt in eine Soundarchäologie vor, bei der Mensch und Maschine ein Interface konfigurieren, das Raum und Zeit durchpflügt. Weit ausladende, spärliche Soundlandschaften werden durchmessen, kontrastiert von Testsignalen und sperrigen Beatkonstrukten. «Rhythmen spielten stets eine wichtige Rolle, sie wurden nur subtiler, atmosphärischer», schildert Mueller. «Es ging darum, die Essenz damaliger Beobachtungen herauszufiltern. Was bei diesen beiden Platten Teilchenbeschleuniger und Quantenphysik hiess». Thema dabei war unter anderem der um diese Zeit am Forschungszentrum Deutsche Elektronen-Synchrotron DESY in Zeuthen nahe Berlin eingerichtete Linearbeschleuniger TESLA. Aus der Linear Accelerator-Phase stammen jene bekannten Fotos, die Nhan und Mueller, in Laborkittel gehüllt, vor einem Hohlraumresonator zeigen. «Wir fanden es grossartig im DESY. Wir würden gerne auch einmal das CERN besuchen, um den Elementarteilchen zuzuhören», grinst Nhan. Immerhin wurden CERN-Bilder für die Covers von Calabi Yau Space und Myon-Neutrino (Gigolo, 2002) verwendet.

Myon_Neutrino

Der im deutschen Sprachraum als Calabi-Yau-Mannigfaltigkeit bekannte Ansatz stammt aus der Stringtheorie und besagt in etwa, wie supersymmetrische algebraische Modelle von einem zehn- auf einen vierdimensionalen Rechenraum transferiert werden können. Ob er daran denkt, Physik zu studieren? «Wenn ich etwas tue, setze ich mir zum Ziel, es mit vollem Einsatz zu machen. Ich lese zwar am liebsten wissenschaftliche Bücher, aber es gibt Dinge, die mich davon abhalten, ein Studium mit der gebührenden Ernsthaftigkeit zu betreiben.» Ein ironisches Lächeln huscht über sein Gesicht: «Musik zum Beispiel».

Als Arpanet wurde mit Platten wie Wireless Internet bereits 2002 das kabellose Zeitalter und die totale Vernetzung eingeläutet. Das Internet stellt für Mueller nach wie vor einen wichtigen theoretischen Referenzrahmen dar. Gefragt nach seiner Einschätzung zu Social Media, kommt der für ihn typische pragmatische Kommentar: «Diesen Begriff lehne ich ab. Solche Werkzeuge tun, wofür sie entwickelt wurden: technisch vermittelte Kommunikationsnetzwerke herzustellen. Wie dringlich der Wunsch nach derartiger Interaktion ist, lässt sich daran ablesen, dass 2012 von den circa 2,4 Milliarden Internetnutzern weltweit jeder fünfte ein Facebook-Profil hatte. Wir haben zwar auch eines, nutzen es aber nur für den professionellen Gebrauch.»

Kontraste

Wer vorherige Dopplereffekt-Platten oder andere Veröffentlichungen von Mueller wegen ihrer (ambienthaften) Tanzbarkeit geschätzt hatte, musste sich von Linear Accelerator und Calabi Yau Space enttäuscht sehen. Und auch Tetrahymena ist noch am ehesten ein Kopfkino-Soundtrack.

Foto: © Daniel Jarosch

Foto: © Daniel Jarosch

Das Projekt trat in eine vollständige Konzeptualisierung von Klang und Ikonografie. Diese Entleerung in den Hyperraum macht in der Live-Situation aus Nhan und Mueller beinahe regungslose «Showroom Dummies». Es scheint, als wäre das Datenkabel zwischen ihren Synthesizern eine digitale Nabelschnur.

Diverse Berichte mokieren sich darüber, dass auf ihren Konzerten «nichts los» sei. Was sowohl falsch wie richtig ist. Dopplereffekt gestaltet sich weniger als Live-Band denn als Zuhörprojekt. Eigentlich sollten sie hinter einem Vorhang spielen, auf den die Visuals projiziert werden. Während etwa Kraftwerks Projektionen trotz aller Abstraktion des Technologischen weiterhin einen gewissen humanoiden Faktor mitverhandeln, dringen die von Dopplereffekt in das Herz der Maschine ein und stellen in davon praktisch leergeräumten Bildern nur noch die Folgeerscheinungen menschlichen Handelns dar. Mueller dazu: «Wir zeigen in den Visuals den Kontrast zwischen Dingen wie sie waren und wie sie heute genutzt werden. Man will beispielsweise Quantenmechanik in ihrer Blütezeit und in ihrem derzeitigen Stadium abbilden. Dadurch entsteht eine Korrelation.»

Dass die verwendeten Ästhetiken für heutige Verhältnisse ziemlich antiquiert daherkommen, tut dem Ganzen keinen Abbruch. Vielmehr sind es Imaginationen einer verdrängten Zukunft, bei der sich die Zeichen ihres Zeitkorsetts entledigen und in einem «enthistorisierten» Zustand bewegen. Die elektromagnetischen Gegenrealitäten von Dopplereffekt löschen den Produzenten aus, übrig bleibt das Paradigma der Daten.

Auswahldiskografie

Dopplereffekt: Tetrahymena (EP, Leisure System 2013)
Dopplereffekt: Gesamtkunstwerk (Clone 2007)
Dopplereffekt: Myon-Neutrino (EP, Gigolo 2002)
Visiona + Dopplereffekt: Die Reisen (EP, Last Known Trajectory 2014)
NRSB-11: Commodified (WéMè 2013)
Zwischenwelt: Paranormale Aktivität (Rephlex 2011)
Zerkalo: Stoi Storoni Zerkala pt. 1 & 2 (EPs, Clone Aqualung Series 2009/10)

Der Text ist erstmalig erschienen im Journal für Musik Skug #97, 1-3/2014.

Radio Art #1

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Bernard Clarke is an award-winning radio broadcaster with RTÉ lyric fm, Ireland. On his new music programme, Nova, he combines contemporary music, history, Zeitfragen and politics to intense Radio Art pieces. I met him at the 2014 Ars Acustica meeting in Geneva, and enjoyed his complaint about an often heard comment: «This is too heavy for the listener.» «One day», Clarke said with irony, «I'm going to kill this one listener. I don't believe that he or she even exists». Later, I heard his amazing work via Soundcloud. In «Tracing A-7063», for example, he narrates stories of Holocaust survivers through audio memory talk, music and sound [see liner notes of the piece below]. Moved by his works, I decided to send him a few questions via email. It's a possible start to a new norient radio series.

Why does Radio fascinate you?

In a word: ephemerality. I find its’ very transience bewitching and frustrating. It also has the power within the listening moment to present lies as truths and truths as lies, where even jesting Pilate stays for an answer. Its rich sonic history is also dazzling: a journey into the archives is very illuminating, not only for accents, styles of presentation, the dead and so on; but also for noises on and noises off, microphone placements, jingles, theme tunes. In some of the early reels and tapes in RTÉ (Ireland’s state broadcaster) there are drafts of programmes with presenter and producer recording. The station was also at one stage situated beneath the General Post Office in O’Connell Street, in Dublin (literally in the city centre) and you can hear the rumblings of traffic, but also doors opening and shutting, footsteps and stray conversations suddenly passing you, listener listening, by.

What are the aesthetical (and maybe technical) questions you are experimenting with these days?

Immersion is everything for me – I want to immerse the listener in whatever experience is unfolding. But my dreams are far ahead of my abilities, so I spend a lot of time trying to realise even a shadow of them. Aesthetically, for me at least, I’m trying to reconnect the signal between what came before radio art and musique concrete. One did not grow out of the other, though both are now almost warring siblings, or at least estranged. It’s a weird thing. Ted Hughes’ poem «A Childish Prank» from «Crow» sums it up:


Man’s and woman’s bodies lay without souls

Dully gaping, foolishly staring, inert

On the flowers of Eden.

God pondered.



The problem was so great, it dragged him asleep.



Crow laughed.



He bit the Worm, God’s only son,

Into two writhing halves.



He stuffed into man the tail half

With the wounded end hanging out.



He stuffed the head half headfirst into woman

And it crept in deeper and up

To peer out through her eyes

Calling it’s tail-half to join up quickly, quickly

Because O it was painful…

So it’s Crow FM for me, stuffing one into the other.

What are moments you liked most in your radio work of the last year?

To be brutally honest almost none. I’m looking forward to the day when I can listen to something without wincing and hearing the short-cuts. But not to be too pessimistic: subject matter is now absolutely everything for me and dictates form, tempo, mood, colour. One piece true to that stance is Tracing A-7063; one completely opposite it is the he and the she of it. Both work, though I still wince and hide behind the sofa.

 

 

Radio Art by Bernard Clarke

Hear more piece via Soundcloud.

 

 

Liner Notes of «Tracing A-7063»

Tracing A-7063 is a radiophonic impression of a new documentary film in progress (working title A-7063) by the young Polish director Maciek Klich. It grew out of a conversation with Maciek: in Auschwitz last year he met survivor Eva Mozes Tor and interviewed her concerning her experiences at the hands of the infamous Doctor Joseph Mengele. Maciek has set out to tell Eva Mozes Tors’ story in documentary film and animation for the memory sequences of her experience in the Holocaust.

I was intrigued and inspired by what he told me and set out to render such a dual style of narrating a story in sound. I divided my sources into old and new, black and white. I dipped into archive interview audio of concentration camp survivors Roman Halter, Ruth Foster and Maria Ossowski (for me bleached out memory pieces) and also used some of Maciek’s present day interview with Eva Mozes Tor (for me this is black, a stereo present, but also black haunted memory).

I did the same with the music: the opening of Mozart’s Requiem (in a recording as approved by the Nazi regime made in 1941, with all references to Christianity’s Jewish roots excised: «Te decet hymnus, Deus in Sion» was replaced by «Deus in coelis»; whilst «in Jerusalem» was replaced by «hic in terra») with its whish and crackles and pops-I used these very surface noises to generate (through additive and granular synthesis) a lot of the sounds that follow.

I also transformed the shouts of Sieg Heil Sieg Heil and then used the results to generate the soundscaping of the various music (s) that «frame» the voices. The greatest challenge I faced was the risk of sensationalizing the material: alas, there is what is now called a «Holocaust Industry» particularly in print, so what was uppermost in my mind was respecting the voices, keeping them as the primary sonic material and letting them tell their tales. That said I also wanted these voices and sounds to work sometimes in opposition and sometimes in complimenting each other.

To do this I turned some of my new soundscapes to traces of themselves (blacks to grey’s): for instance the sound beneath Eva Mozes Tor’s tale of her being tattooed is a stereo rendering bleached out and scratched up to suggest vinyl and also the burning of the pen and ink that will mark her forever: A-7063.

The first version of this won Best Audio (Yamaha Música award) at this years Black & White International Festival in Porto, Portugal

 

 

Bernard Clarke (B. 1967) is an award-winning radio broadcaster with RTÉ lyric fm, Ireland. His new music programme, Nova, has won five consecutive PPI Radio Awards (National Irish Radio Awards) and one New York Festival’s award; he’s also won prizes for documentaries on Patrick Kavanagh, Glenn Gould, The Doors, and Jimi Hendrix. Clarke has also been shortlisted for the Prix Italia (Cagliari, 2008), the Prix Europa (Berlin, 2011), the Prix Phonurgia Nova (Paris, 2012); the Black &White International Audio Festival (Porto, 2013); and has just won Best Audio at the Black &White International Audio Festival (Porto, 2014).

Though he has extensive radio experience, his work in radio art is still fairly new with his radio art pieces being broadcast in Ireland, Germany, France, Austria, Czech Republic, The Netherlands, Spain, USA and Australia. He is a member of the EBU Ars Acustica Group and his interests include sound, sound, and sound.

Link to his work on SoundCloud
Link to his work webpage

Sampling Place

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Norient untersucht im geplanten Projekt «Glokale Sounds», wie Tracks Referenzen auf Orte verarbeiten und neu kodieren. Ein erster Überblick mit Beispielen aus Gegenwart und Geschichte.

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Die beschleunigten Prozesse der Digitalisierung revolutionieren die Produktion von Musik auf vielen Ebenen. Das Internet ist ein ständig wachsendes Archiv, und die Preise für Datenspeicher auf Computern und in Online-Clouds sinken. Fast jede Musik, fast jedes Geräusch, fast jeder Sound ist mit wenigen Mausklicks verfügbar. Akustische Daten lassen sich speichern und einfacher denn je mit Musiksoftware auf Computer und Tablet bearbeiten und mit neuen Instrumenten (Midi-Keyboards, Controllern und Apps) manipulieren. In aktuellen Popmusik-Tracks vermischen sich Samples von Sounds, Musik und Geräuschen aus globalen, regionalen und lokalen Kontexten. Diese Samples werden als Bestandteile von Tracks auf Online-Plattformen wie Soundcloud und Bandcamp veröffentlicht, über soziale Netzwerke weltweit beworben, in Konzerten, Performances und Installationen inszeniert und erhalten in diesen neuen Kontexten neue Zuschreibungen und Codierungen. Simon Reynolds beschreibt die neuen Tracks als eine Mischung aus Zeitreise («time-travel») und spiritueller Sitzung («seance»), bei denen Geräusche und Klänge aus fernen Kontexten und Zeiten im Hier und Jetzt klingen (2011:313). Kodwo Eshun spricht von «Sonic Fictions» (1999) und Josh Kun von «Audiotopia» (2005). Ein Rapper aus Seattle umschreibt die neue Freiheit im Umgang mit Orten in der Musik mit den Worten «who needs a ZIP-code when you’ve got URL?» (Guillard 2014).

Welche Rolle spielt die «Verortung» im digitalen Musikschaffen? Wie frei oder voller Geographie sind Tracks heute? Wie werden «Orte» inszeniert und in verschiedenen Rezeptionskontexten gedeutet? Das geplante Forschungsprojekt untersucht diese Fragen nicht nur aus musikalischer, sondern auch aus gesellschaftlicher Perspektive. Es zeigt die Diskurse und Kontroversen auf, die sowohl ein komplett freies Arbeiten mit Referenzen als auch ein bewusstes akribisches Zitieren auslösen.

Das geplante Projekt untersucht systematisch, wie Referenzen auf «Orte» in aktuellen Tracks verarbeitet und neu codiert werden. In der Musikgeschichte lassen sich hier sowohl grosse Veränderungen (u.a. dank technologischer Neuerungen) als auch wiederkehrende ästhetische Strategien finden

Hier erste Beispiele, die das thematische Felder abstecken. Das Projekt soll 2016 starten.
Projektleitung: Dr. Thomas Burkhalter.

 

 
Gegenwart

Place Sounds: Folklore

Aktuelle Verarbeitungen von Folklore, Volkmusik und Feldaufnahmen. Die Sammlung wird laufend erweitert.

Place Sounds: Oriental Trap

Aktuelle Verarbeitungen von arabischen, türkischen und persischen Melodien, Instrumenten und Sounds.

 

 
Vergangenheit

Mashup, Hauntology, Plunderphonics, Soundscape-Komposition, Musique Concrète

Das Projekt vegleicht aktuelle Beispiele mit den unterschiedlichen Sampling- und Remixstrategien
aus der Vergangenheit: aus Mashup, Hauntology, Plunderphonics, Soundscape-Komposition, Musique Concrète, Futurismus, etc. Hier einige Beispiele aus der Geschichte. Die Sammlung wird laufend erweitert.

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Zitate

Wie verändert die digitale Verfügbarkeit aller Klänge das Musikschaffen? Stimmen und Meinungen von Forscherinnen, Musikern, Journalistinnen und Bloggern – aus der virtuellen Norient Debatte zur Ausstellung «Seismographic Sounds».

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J.G. Biberkopf: «Clubs Are Conservative»

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J.G. Biberkopf's music is as challenging as it is engrossing. On his new album Ecologies II: Ecosystems of Excess, which he will perform live at the 8th Norient Musikfilm Festival 2017 in Bern, St. Gallen, and Lausanne, he explores the way global politics shape the ecosystems of the earth. Norient talked to him about looking for a political stance in a troubled world and making music within the «exploitation mechanisms» of art institutions.

J.G. Biberkopf (Knives Label, Lithuania, 2016)

J.G. Biberkopf (Knives Label, Lithuania, 2016)

Although he grew up in Vilnius, Lithuania, J.G. Biberkopf’s music first came to our attention within the art music meets club music interzone associated with collectives like Fade To Mind and Night Slugs. After releasing mixes through Truants and The Astral Plane, he released his debut EP Ecologies in 2015 through Kuedo and Joe Shakespeare’s Knives label. A year on, he’s just expanded on it with his debut album Ecologies II: Ecosystems of Excess, again released through Knives.

Where his first EP was crafted as a journey through the representations of nature that emerge with the social media landscape, the creation of his album was driven by his reading and thoughts on the way global politics shape the Earth’s ecosystem as well as the architectures and infrastructures of power. Fashioned out of a mixture of field recordings and samples, traditional club music concepts and well thought out theory, it’s an immaculately detailed and designed synthesis where although the sum is resolutely bigger than it’s parts, they all play their own crucial roles within Biberkopf’s musical ecosystem.

Given the level of detail and thought behind the album, the musician opted to extend the narrative with an artbook housed in the album’s packaging. Designed an illustrated by award-winning cult design studio Maximage, it also contains an essay based on the album written by New York writer Deforrest Brown Jr. In celebration of the release, I asked J.G. Biberkopf about amongst other things, his background, processes and the experiences that went into the creation of the album and the supporting book.

[Martyn Pepperell]: I understand you started making music on pirated software as a reaction to the social environment while you were growing up in Vilnius? Could you expand on this period a bit more? What were you listening by to before heading down the producer route? And how did giving yourself these tools open up the world for you?
[J.G. Biberkopf]: Well, my parents are from information sciences – mother is a mathematician and father is an engineer, both work in IT now, so I ended up well versed in these things. While I was growing up the country was going through an extreme transition from being occupied by the Soviet Union, so bootleg and piracy culture blossomed – nobody would question the morality of pirating, so my parents would never say that paying for entertainment or pleasure is reasonable.

In parallel, when I was a teen, I went to quite bad schools in tough neighbourhoods. I was unhealthy – I got diagnosed with bipolar and I ended up falling out of the educational system altogether. In the end for me, music was like carving out a space, getting a load off, expressing, creating an identity, which wouldn’t be allowed, in that particular social order which very traumatised and violent. I think the turning point in how I relate to music was hearing Nas’ Illmatic, which was one of the things I really connected to in a profound way. Later on, I was fond of people like John Waters, R.W. Fassbinder, and Gus Van Sant, Keren Cytter, even later on, Ryan Trecartin, which I got to know about early on through piracy and initiatives like ubu.com.

A New Consciousness

[MP]: Your music is driven by your thoughts around how global politics shapes the Earth’s ecosystem and the architectures and structures of power. What sort of experiences or discoveries pushed you in this direction, and why did music feel like the appropriate platform for you to address these issues?
[JB]: Well, it’s one of the worst platforms for these things – that I’m pretty much certain by now – especially on its own. Although I’m doing it wrong, it’s interesting and a lot of the time frustrating to make it work. I think with projects like Drexiciya and Underground Resistance, the way they used instrumental music as a platform for political activism and experimentation became a huge influence for me. Also, the way Holly Herndon and Mat Dryhurst did it with Platform last year was encouraging, to see how they manoeuvre the complicated farce that music media and industry is, to start a conversation about anything meaningful to bring specific discourses.

Artists like Nkisi, Aisha Devi, D’eon who experiment with music (in order) to invent new ways for new modes of existence, and for new philosophies are a continuing influence. I am disillusioned with club entertainment, electronic music. For me, it is important to escape the old tradition of this music with a fixation on the technological, which in my view is a heritage of electronic music instruments evolving out of military technologies.

But if we’re talking about the direction of the album, I think I was reading Mckenzie Wark’s texts. I got the realisation that new patterns of climate conditions and irregularities mean a disruption in how society relates to each other: a new consciousness, and new modes of existence for inhabitants of the Earth, which isn’t that original I guess? In the end, the Ecologies II was an effort to understand how I should position myself in the contemporary order of things, and carve out a way of living. Integrity is criticised a lot, but I still hold it in high regard. I believe in the «practice what you preach» approach. So, I think by the time I finished the record I had become quite ascetic.

[MP]: I also understand that on another level Ecologies II was written in response to your experiences travelling through the megapolises of South East Asia. When and why did you start visiting these places, and what did you learn from your time in them?
[JB]: I think this is a story that has begun to live its life, which has not that much substance. I wouldn’t give a particular place that much of importance. But I was travelling through South East Asia at a time which I think was a critical point for the album. I did write a couple of tracks that were a reaction to experiences here, like for example «Globalalia» which I think is probably a response to experiences to EDM parties in Malaysia and realisation how globalisation and modernity go hand in hand with particular strands of club music.

Also while here I was reading Keller Easterling’s Extrastatecraft, which was the best book I could pick up by accident for travelling. It gave a lot of insight, but that book’s work needs to be a whole conversation. I am currently in Bangkok and will move on from here for the next couples of months, doing «research». I am very much interested in the rapid continuing modernisation, especially the patterns of spatial production and the protocolization of usage of space here.

Clubs Are Conservative

[MP]: Ecologies II is built out of field recordings, programmed parts, melodies and sound design. It’s an accelerated take on musique concrete and its techniques. Do you consciously think of yourself as working in a musique concrete tradition or not?
[JB]: I don’t think I’m part of the canon. I have pretty limited knowledge of it, but certain ideas and pieces do resonate with me. I learnt about musique concrete early on. If to continue name dropping, I think Helena Gough’s album Microklimata was the first piece of musique concrete that I connected with. Then there’s work of Luc Ferrari, his Anecdotal compositions and theory of it. AGF’s experiments in 00’s were especially dear to me.

I tend to get annoyed when what I do is called sound design, I don’t even know what it means (likewise «producer») which is almost a way of not accepting certain language as music. It is funny that people can still be conservative about it. Clubs are conservative in unexpected ways. When you confront certain definitions of music, certain expectations of music that are dominant, you shouldn’t be surprised when faced with derision. Although with this album, I think it is a bit different, since I believe it is trying to be more «musical». Knives pushed for releasing the more musical tracks, so a lot of «musique concrete» pieces got left out.

[MP]: Over the last couple of years, there has been an increase in the number of albums written as investigations of ecology and life cycles, be it life cycles of a creature or even a massive star. Do you have any thoughts on why these sort of topics are coming up at the moment?
[JB]: Honestly, apart from a particular group of people, loosely connected via social media, I pretty much stopped following and listening to contemporary electronic music. I really struggle to legitimise listening to a lot of it for various reasons. I also have to do stressful work most of the time, which hijacks my mind entirely – and I can’t do background listening at all. So I don’t know what is happening in the media, or what the dominant discourses are.

Of course, if going back to the questions, there’s a lot more effort to understand what’s going on. The same rise in «investigations» are happening in academia, theory and art, where’s there so much more about the effort to understand implications, of this transition on a global level, speculate on what is going to happen, and how you react and mobilise. Some of the work is worse – especially when it tries to capitalise on it – some is better, when it actually contributes knowledge.

Music for Active Listening

[MP]:  Ecologies II is a truly immersive album that really rewards close listening. What was it that made you want to create a record that worked like that? Obviously, I’m overly cynical here, but sometimes it seems like this is one of the hardest periods of time to hold someone’s attention in ever.
[JB]: Well, I don’t know if you could universalize that experience. It’s an unpleasant event, which you choose to partake in. I don’t make it for passive listening, and I think at certain moments, I make decisions that are fighting against it becoming background music. Jamie [Teasdale aka Kuedo] did have an impact on the album, – in making it «immersive» and «cinematic». As I was experimenting with applying classical dramaturgical theory for my live shows, and Jamie’s much more well versed in classical composition, we found a common language. So he gave a lot of insight. I think it worked together to lead the album to where it is at.

[MP]: The LP version of  Ecologies II comes with an essay by Deforrest Brown Jr. packaged in an artbook format designed by cult design studio Maximage. Why was it important to present the album with this supporting material, and what sort of processes did you have to work through to get it over the line?
[JB]: Well, the «artbook» started, as there was a need, to give any clue onto the knowledge that I try to build with the Ecologies project, especially since it’s becoming less about the music, more about the research. I think music becomes mostly a reaction to the research I do, and the way I do research is less and less compatible with composing music. Also with the label, we were thinking of ways to get away from the LP format, we thought of doing more of a book, with more contributors, but in the end, we had to go with this compromise for various reasons.

So I started talking with Deforrest last year, as I felt that he shared a lot with what I was going through. This lead to us having these dense conversations through this year, about what we are both thinking about what’s happening and where we are coming from in connection to it. I made these chapters of the whole ecologies system, he started writing, and we would go back forth responding to each other. It ended up being an especially dense piece, which can be alienating by its complexity – Deforrest tends to write in concentrated sentences – but I think it nails it, and it kind of becomes a sort of a manual to the Ecologies series.

[MP]: I note that this project would not have been possible without the kind support of CTM and Deutschlandradio Kultur Radiolab. What sort of relationship do you have with these organisations and what did they bring to the table? How important do you see this sort of support as being for people working within this space?
[JG]: Me and Marija Bozinkovska Jones were selected to create a performance for CTM’s & Deutschlandradio Kultur Radiolab last year. It allowed experimenting with a lot of ideas with support on various levels from these organisations. They give and they take, but what they take is pretty respectful and the compromises you make aren’t at all corrupting. I genuinely enjoyed the experience. We had some screw ups with the performance itself, but the experience itself was brilliant, especially when compared to working with significant art institutions, which honestly a lot of the time feel like complex exploitation mechanisms, scams driven by their symbolical capital. Anyway, I am incredibly grateful that I am able to do projects like that, with some financial support, which allows me to escape much more compromising commercial projects in order to make ends meet.

J.G. Biberkopf will perform his audiovisual liveset Ecosystems of Excess at the Norient Musikfilm Festival 2017 on January 12 in Bern, on January 13 in Lausanne and on January 14 in St. Gallen.

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> The Quietus: «An Order of Crisis»

Fantasies of War

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Media converts real wars into long distance entertainment. But the condition of war and the fantasy of it belong to the same articulation of a collective desire. This is what the US clubmusic duo Nguzunguzu uses as sonic traces in their energetic tracks. From the Norient book Seismographic Sounds (see and order here).

The Custer Fight Lithograph. Shows the Battle of Little Bighorn, from the Indian side (Charles Marion Russell 1903)

«If it bleeds, it leads», asserts the critic Susan Sontag in a discussion concerning the visual pleasure derived nowadays from the realities of violence and war. Media – whether TV, films or media-based arts – feeds on violence’s tremendous ability to provide «long distance» entertainment. In fact, it is this phenomenon of mass violence on the screen that lies at the heart of contemporary media culture. Sontag hastens to add that «wars are now also living room sights and sounds», where armed conflict is a real-time spectacle to be consumed and discarded, rather than experienced first-hand.

But what exactly are we listening to when we speak of war sounds? In fact, the reality of war can be rather boring and monotonous. I would argue that there’s no such thing as sounds of war, not because war is not an aesthetic category, but because there doesn’t seem to be anything extraordinary about it other than the time quality that disestablishes reality. Time is infinitely enlarged during conflict; it becomes a long tedious routine to use your time up.

The Seduction of the Battlefield

In Nguzunguzu’s video-work sound is invasive – it assumes sound to be the architectural force in conflict; it floods space entirely, it is completely unavoidable. In this video, sound is carefully controlled to belong to the sensorial disorientation that is caused by war. War is vehement denial of the order of the real. In its fluid energy, Nguzunguzu’s musique concrète captures the seduction of the battlefield only. What we are listening to in the video is more similar to background noise than to the acoustic strangeness of war.

The condition of war and the fantasy of war are not the same, but they intersect at the level that neither is merely circumstantial; they belong to the articulation of a collective desire, and listening to war is standing at the threshold of an expanded field. In «Mecha» there is a world at war, which is a lot more than just war; it is the dominion of technology over history. Nguzunguzu’s epic does not offer images or sounds of war, but that orientation towards death which animates our culture today. This audiovisual continuum does not belong in the boundaries of the real, its truth marker lies beyond perception.

Are we perhaps witnessing here a sonic mutation between science fiction and war? A common denominator between them is precisely the fantasy of death that drives them, anchored in the imaginary of the absolute future: state of emergency, total war, means without ends. War and science fiction also share a common strategy: They do not attempt to walk us into the future at all, but only to delay it in order to re-arrange a collapsing present.

This text was published first in the second Norient book «Seismographic Sounds». Click on the image to know more.

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> Martin Daughtry: «Posthuman Grooves»


The Abyss of Chaos and Nature

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Is noise music a rebellion against liberalism, propaganda and conformism? Is it warfare against overfed, ignorant and cold societies? We asked noise artist Rudolf Eb.er what noise music is about. Here he guides us through names, artistic concepts, and subgenres. From the Norient book Seismographic Sounds (see and order here).

Rudolf Eb.er (Photo © by the Artist)

noise music is widely described as a category of music using noise in a musical context. with this description, the rules are set. we can relax. to make sure that no uncertainty will ever arise again, ripping holes into our belief-system and dragging us into the abyss of chaos and nature, we write down the history of noise music. locating its roots at the sociocultural changes that occurred during the industrial revolution, we mention the 1913 manifesto l’arte dei rumori written by the futurist luigi russolo. to make sure nobody asks if it isn’t music that roots in the functional use of noise, as in ecstatic rituals or tribal warfare, we quickly add some words about russolo’s noise-generating devices and hurry on to the dadaist movement with their anti-symphony. we try not to single out the word surrealism. that would cause us to mention antonin artaud’s theatre of cruelty and to go on to the actionists and hermann nitsch’s monstrous noise orchestras, dragging us into the abyss of chaos and nature. instead we go forward. avant garde! anton webern! arnold schoenberg! morton feldman! this is where music matures. krzysztof penderecki, györgy ligeti, luigi nono! contemporary classic, making us feel the abyss of chaos and nature. elektronische musik and musique concrète. edgard varèse, pierre schaeffer, karlheinz stockhausen! john cage’s silent piece «4’33”».

«noise is always happening that makes musical sound». now we lost it again. we must stick to the plan and divide the term noise music into genres and sub-genres until everything has its place – until we can be sure we never have to listen sounds free of any preconceptions! but cage won’t let us go that easy. fluxus plucks and taps, scratches and rubs and drops objects onto our filing-cabinet-mind. the jazz players next door don’t hold back the canon of noise. sun ra, roscoe mitchell, amm! and william s. burroughs is cutting up all our good efforts and glues them the wrong way back together.

halfway through this text and we haven’t come up with any useful key to specify noise music. it’s the later 1970s and asking some skinny, freaky-eyed kids, they’ll point to a band called throbbing gristle. monte cazazza labeled those sickening, atonal but often repetitive sounds by genesis p-orridge and consorts as industrial. from here our genre-detector is picking up. harsh noise and power electronics for example. harsh noise is often produced with distorted electronics and the excessive use of effect pedals, handled by someone suffering the furious symptoms of rabies. power electronics as we know it from the band whitehouse, consists of rather static waves of feedback, pulses from analogue synthesizers and a guy screaming sadistic obscenities or other hateful lyrics. another branch of power electronics with crude sounds, fanatical vocals and hysteric, masochistic stage behaviour is orchestrated by martin bladh’s irm or mike dando’s con-dom. with his war against society project, dando tests social tensions, political control and human conditioning through provocative performances. propaganda, war and violence are the topics of many sonifications in this field, presented in undiluted, pure brutality.

when the sounds lower down and the screams turn into grunts, we speak of death industrial and flirt with doom and black metal. occultist tendencies are also very present in what is called dark ambient. when there is not much left but soundwaves vibrating our guts, it may be filed under drone. if we hear only the amplified noise of a hole-puncher punching holes, we may be listening to the conceptual noise project the haters. a central aspect of their work is that the sounds they produce are pure physical processes such as grinding, crashing and other forms of destruction. the nihilistic agenda of this non-music or anti-music, from where punk looks like an effort to bring law and order back into music, is shared by such groups as the new blockaders. experiencing the conceptual works of achim wollscheid, the psychotic collages of étant donnés or the obscure sonic rituals of the schimpfluch outsiders, yields the realization that genre is obsolete and we’d better move on from classification to an open mind. time to dive into the abyss of chaos and nature.

The text was published first in the second Norient book Seismographic Sounds. Click on the image to know more.

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> Simon Grab & Thomas Burkhalter: «Noise and Meaning»
> Simon Grab: «Extreme Rituals»
> Asadullah Qureshi: «Underground Noise from Pakistan»

Sein Zuhause Komponieren

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Ich wuchs auf in einer ruhelosen Welt. Im Haus meiner Grosseltern, im Bombay meiner Kindheit war Stille ein kostbares Gut. Alles war laut, durch die immer offenen Fenster drängten die Straßen in die Zimmer, mit ihren kreischenden Hupen, knatternden Dieseln, den melodischen Schreien der fahrenden Händler. Auch im Haus schrie man selbst dann, wenn man es sachlich meinte: um das unaufhörliche Brausen der Stadt im Wohnzimmer zu übertönen, hatten meine Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins ihre Stimmen zu kräftigen Organen erzogen.

Nie war man allein. Aus der Küche drangen Zisch- Brutzel- und Hackgeräusche, aber auch jene oft in lautem Gekeife oder Gelächter kulminierenden Debatten in drei Sprachen – Gujarati, Marathi und Englisch – die sich nahtlos ins Esszimmer und in den Shivaji Park gegenüber fortsetzten, wo jeder Sonntag mit endlosen Lautsprechertests begann, Probeläufen für politische Massenveranstaltungen, deren geifernde Appelle regelmässig den Hof und die Bäume vor unserem Haus überschwemmten. Darin punktierten Affen, Tauben, Mynahs und Krähen den allgegenwärtigen Lärm, aber auch die stillsten Minuten, kurz vor Tag, in jener verhaltenen, verwunschenen Zeit, in der das Hecheln hunderter Morgengymnasten den Tag begrüßte, Tennisbälle und –rufe, das Klackern der Bambusstäbe, die in wie rituelle Tänze anmutenden Verrenkungen aneinandergeschlagen wurden. Manchmal konnte man, in diesen kurzen Minuten des Zwielichts, tatsächlich das nahe Meer rauschen hören, der Bordun für all die bald darauf einsetzenden Morgengesänge aus den Häusern rundum, und für die ferneren Rufe der Muezzins.

Die Welt war ein brodelndes Miteinander verschiedenster Klänge, menschlicher, technischer, natürlicher – und von Musik. Die singenden Rufe der Bettler, die blechern und quäkend lärmende Fröhlichkeit der Hochzeitsbands, die jeden Winter zu einem monatelangen Fest werden liess, die kreischenden Radios, die obsessive musikalische Beschallung jedes Unterfangens im öffentlichen Raum diente nicht, wie hierzulande, der Erzeugung klingender Schutzglocken vor dem Alltagslärm, sondern erzeugte, dendritengleich, ein Netz von Beziehungen: da sang die Tante in der Küche das Lied aus einem vorbeifahrenden Taxi mit, hupte der Taxifahrer im Rhythmus der an ihm vorbeiziehenden Prozessionsmusik, die wiederum Filmschlager intonierte, die aus einem der Läden am Strassenrand quollen.

Jeder hörte, jeder machte aber auch Musik: Fast jeder ältere Mensch, der mir in Indien nahe war, sang täglich seine Gebete und Lieder vor sich hin, in einer melodischen Komplexität, die mir noch heute erstaunlich erscheint. Klassische und populäre Musik bedeuteten nicht musikalische Kategorien, sondern verschiedene Stufen der Aneignung: alles, was man wiederholen konnte, mit sich singend im Alltag umhertragen, war populär – klassische Musik war dagegen das Unwiederholbare, das den Moment des Hörens und Machens herausschälte aus der ewigen Wiederholung der Welt.

Die Welt war eine Haut aus Lärm, in der man geborgen war, die einen nicht in Ruhe ließ. Dann kam ich nach Deutschland, aufs schwäbische, später norddeutsche Land, mit seinen geschlossenen Fenstern, den großen Schallschluckern Regen und Schnee, den wortkargen Konversationen im Unterton. Vorher war mein Elternhaus fast eine Insel der Stille im indischen Alltag gewesen, jetzt waren wir immer und überall, wo wir wohnten, die lautesten Nachbarn.

Was ich mitnahm aus Indien, war das Bewußtsein dafür, dass kein Klang je alleine daherkommt – aber auch die Sehnsucht nach dem köstlichen Geschmack der Stille und der Kraft, die aus ihr entsteht. In Hammah, dem niedersächsischen Dorf meiner Jugend am Rande des Sterneberger Moors, wurde ich in der regenrauschenden Stille der einsamen Nachmittage zum Komponisten, der Töne aufsuchte und aus der Erinnerung klaubte. Unbeholfen anfangs (und eigentlich noch immer), aber unbeirrt in meiner Suche nach dem sich immerzu wandelnden, und genau aus diesem Grund letztlich intellektuell undurchdringlichen Zusammenwirken disparater Klänge.

Tatsächlich hat mich Musiktheorie bei aller intellektuellen Lust, die sie mir ermöglichte, nie wirklich gefesselt, ihre pseudo-mathematischen Spiele und pseudo-histologischen Präparate, seien es Skalen, harmonische Analysen, Frequenzraster, Formmodelle, Mikrotöne, die mich allesamt sehr lange Zeit selber verwirrten, vom Komponieren dessen, was ich wirklich suchte, abhielten – heute erscheinen sie mir als ebenso viele Mittelchen gegen die Folgen einer frühkindlichen akustischen Mangelernährung. Ihre bedauerlichen Opfer schneiden sich in heroischer Geste die Ohren ab, um den Tumult (und die Süsse) der Welt nicht ertragen zu müssen. So wollte ich nicht leben.

Mein kompositorischer Umgang mit den verschiedenen Klangwelten, in die ich geworfen wurde, und auch jenen, die ich später aufzusuchen begann, arbeitet sich keineswegs an einer Konjunktion musiktheoretischer oder klanglicher Kulturphänomene ab. Das würde meinem Empfinden nicht gerecht. Mein Weg in diesem terrain vague ist ganz persönlich, aber darin vielleicht auch verbindlicher. Er lebt von dem aus meinem Werdegang erklärlichen akustischen Gefälle zwischen Grossstadt und Land, zwischen Gesang und Geräusch, vor allem aber zwischen den Regeln des Zusammenseins – und der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit von Harmonie und Bedeutung.

Einige meiner neuesten Arbeiten wie «Inside A Native Land» oder «Mora» erforschen vor allem das letzte Gefälle: wie kann man viele musizierende Individuen musikalisch einander zuhören lassen, ihnen Regeln geben, die ihnen den Kontakt zueinander erleichtern – und wie kann man dann aus diesem Kontakt Bedeutung entstehen lassen, eine Bedeutung, die ich als Komponist selbst noch nicht kenne, die jedoch auch über den Moment der Entstehung hinaus wirksam bleiben kann. Noch sind es nahezu monochrome Tableaux, die ich da entwerfe, in denen das Wuseln der Klänge sich vorerst auf wenige Gesten beschränkt, akustische Snapshots aus meiner Erinnerungstruhe, die Geschichten nur zwischen den Bildern erzählen.

Vielleicht ist das, so denke ich manchmal, überhaupt immer so, dass Bedeutungen nur im Zwischendrin entstehen. Hier ein Kinderschrei, dort ein Klavierton, dahinter der Diesel eines Lastwagens, ein Bohrer in der Wand und ein paar Worte Türkisch von der Straße herauf – so klingt es in meinem Berliner Arbeitszimmer gerade: und das ist eine schöne Metapher für meine Art von interkultureller Musik. So komponiere ich mir auch mein musikalisches Zuhause.

Immer wieder höre ich ich im Westen, dass wirkliche Musik nur aus der Stille kommen könne, aus der Stille der Welt. In Indien ist es dagegen die Lebensaufgabe eines klassischen Musikers, das Tosen der Welt mit heißem Bemühen in eine metaphysische Stille zurückzuführen.

Mir ist beides als Erfahrung nicht fremd – aber ich weiss: mein Glück als Musiker finde ich nur im Wechsel der Perspektiven, im Wirbel der Bedeutungen, in jener Gleichzeitigkeit des sich Fremdartigen, die mir ins Ohr brüllt, dass die Welt der Klänge formlos sei, ohne Ziel und ohne Gestalt, ein unzähmbares Flirren von Lebenszeichen und Klängen. Dann fühle ich mich wohl und bei mir. Und kann mich ruhig an meinen Schreibtisch zwischen all diesen Kulturen setzen – und komponierend in mich hinein dem lauschen, was von der rauschhaften Kakophonie der Welt, die mich jeden Tag meines Lebens durchweht, in meinem Hören hängen blieb.

Photo Credits

Picture one by: Wili Hybrid
Picture two by: fabian-f

Tarek Atoui: Digital Bricolage

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Reflections on the new multi-local musical Avant-Gardes of the 21st Century. An essay on the Lebanese musician Tarek Atoui, Luigi Russolo, Mazen Kerbaj and many artists more.

To me, Tarek Atoui represents the new, truly transnational musical avant-garde of the 21st century. Atoui was born in Lebanon in 1980, and like his contemporaries, he experienced the Lebanese Civil War (1975 – 1990) and was socialized by the sounds of war, soon learning to recognize weapons by their sounds alone. However, in 1998, his life as a cosmopolitan commenced. He had moved to Paris where he studied music at the French National Conservatoire of Reims and collaborated with IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) at the Centre Pompidou in Paris. The French-funded IRCAM was founded by Pierre Boulez and hosted such famous teachers as Xenakis, Globokar and Nono. It was one of the biggest and wealthiest institutions of the avant-garde of the twentieth century (similar to studios of new music and electronic music in Germany and in different cities of the West).

One artist, often called a pioneer of this old musical avant-garde, was the Italian painter and Futurist Luigi Russolo. His famous manifesto from 1913, «The Art of Noises» glorified explosions, rifle fire and the dissonance of industrial machinery. To Russolo and such similar writers as Filippo Tommaso Marinetti, Paul Jünger and Paul Virilio, war resembled a fascinating aesthetic and mythical phenomenon, showing human kind in its whole beauty – both passion and reality (Witt-Stahl, 1999). Russolo and his fellow Italian Futurists encouraged innovation and wanted to outdo the German-Austrian classical music superculture (Ross, 2007). They no longer were moved by the increasingly complex and dissonant patterns of the great composers’ orchestra music, therefore they sought to include other noises and to create new instruments. To them, music was supposed to resemble the realities of modern life. Fascinated by war and its weaponry, many of the Futurists sided with Mussolini’s fascist regime. For some observers, the Futurists were simply a reactionary fascist group; however, for others, they seeded the ideas for many innovations to come.

From Rural to Urban Sounds of the Middle East

Tarek Atoui is well familiarized with Luigi Russolo and the other heroes of the musical avant-garde from Europe and was more than happy to share his MP3 and WAV files with me. In a hotel lobby in Amman we wired our laptops together, and I copied them all – tracks from Karlheinz Stockhausen, from Musique Concrète pioneers like Pierre Schaefer, Luc Ferrari, and Iannis Xenakis, who was of Greek decent. Xenakis, like many others throughout time and in different fields was fascinated by the sounds, melodies, rhythms and noises of the Orient.

On a side note, please listen to the Javanese Gamelan of Debussy, and to the later Orient hallucinations of the US-American jazz and pop avant-garde: the Beat Generation in the 1950s and the psychedelic rock and hippie movement in the 1960s. Psychedelic rock was hip in the Arab World as well. In Beirut alone nearly 200 bands performed psychedelic rock concerts and laid the foundation for the subcultural music scene in Lebanon. Listen to such composers as Bartok and Kodaly from Eastern Europe and Russia as well. For them, non-Western was often rural; however, to Tarek Atoui non-Western is urban. This is one of the many reasons why he belongs to the new, truly transformational avant-garde.

Nonetheless, Bartok and Kodaly influenced an entire generation of musicians and composers in Lebanon, the Rahbani Brothers and Fairuz, Zaki Nassif, Tawfik Sukkar, Tawfik al-Basha and others. From the 1950s onwards, supported by the radio stations Radio Lebanon and al-Sharq al-Adna and by the Christian political establishment, they created what is often referred to as Lebanese music. This style of music took elements from village music, removed some of the harsh sounding instruments, introduced European harmonies and made it accessible to the Beiruti bourgeoisie (Manguy, 1969, Weinrich, 2006, Stone, 2008, Asmar, 2001, 2004, 2005).

In 2005, Atoui returned to Beirut for the first time for a period of one week, during which time I met him in a fashionable bar in Hamra. Atoui had heard that musically, Beirut was on the move. Mazen Kerbaj, Sharif and Christine Sehnaoui began experimenting with free improvised music in the end of the 1990s and the scene had grown quite steadily, and was now ready. In terms of quality, musical pioneers such as the German saxophonist Peter Brötzmann were no longer that far away. In fact, I found Brötzmann’s album “Machine Gun – Automatic Gun for Fast and Continuous Firing” and a selection of free jazz and free improvisation music from Europe and the United States in the apartment of the trumpet player Mazen Kerbaj in East Beirut.

In Beirut, Atoui wanted to discover this scene and the up-and-coming subscenes like post-rock with an experimental touch (Scrambled Eggs), noise to grindcore (Xardas), electro-acoustic works (Cynthia Zaven) and glitch. To do so, Atoui returned to Beirut in 2006 for three months. He organized two workshops and presented MAX/MSP to many of the upcoming musicians in Beirut. It is with this software that Atoui creates his highly complex mixtures of digital soundscapes, abstract beats and noises. He also held children’s workshops in Palestinian refugee camps in Lebanon, during which he taught children to record and film sounds and images from their local surroundings and to edit the video and sounds into collages.

In addition to the workshops, Atoui performed regularly. In his performances, he created soundscapes full of ruptures, cuts and contrasts, and mashups of intense noises, digital frequencies and samples from different sources including field recordings, voices (Arabic, English, Chinese, etc.) media files (from radio and TV), popular music (Arabic strings, Chinese opera, etc.), war sounds and much more. Listeners receive the sounds in different qualities (lo-fi to hi-fi) and compressions (MP3 to Wave), and Atoui adds reverb, distortion and other effects to the mix. The resulting sounds are then sent to the left and right channels and to the foreground and background of the speakers. It is from these performances that we find many reasons to include Atoui within the new avant-garde of the 21st century. His music is not intellectual and stiff, but rather switches within seconds between old categories of high and pop-culture, and while a bit more extreme, it is similar to pop-avant-garde streams in the United States.

Atoui does focus on his performance as much as on the finished piece of music. He spends a lot of his time developing what some call «psychological» interfaces. These interfaces enable interaction in real-time between him as a musician and his laptop. On stage, he ‘plays’ his laptop like a famous rock guitarist plays his guitar. To do so he uses self-built controls to steer his software. At first, Atoui stands still while his music plunges through chaos, with noise and rhythmic structures originating from all possible directions. Then his body starts to move, as he introduces breakbeats. Hardcore drum’n’bass begin structuring the soundscape encapsulating beats from the well-known canon of popular music and club culture. On YouTube one can see Atoui in action – sometimes he performs without a shirt, and the sweat on his body shows the intensity of his music. Russolo and some members of the old European avant-garde would have a fit if they saw these hedonistic performances.

Music resembles the structures of the society in which an artist lives – as several ethnomusicologists argue at times (Blacking, 1976, Erlmann, 2005). Tarek Atoui lives in an increasingly digitized and transnational society where his musical samples derive from here and there and from the past and the present. While his mixes and mashups are full of breaks and ruptures, his life is fairly chaotic as well. It is possible to reach Atoui via Skype, Facebook and email, but never via landline. Since 2005, he has lived without a permanent place of residence. He travels from job to job, performing well-paid events in art universities in Europe, poorly paid gigs in small music venues and giving lectures and organizing workshops in the Middle East funded by an international art and development NGO. Recently, he has spent his time performing and working in Sharjah in the United Arab Emirates. He must constantly negotiate between his own artistic visions and the diverse demands of his various hosts as he moves between the worlds of art, theater, dance and music. Switching between contexts of this sort resembles those from the pop avant-garde born in the United States, or rather, as some have called it, experimental music from non-musicians who were educated at universities of art. These non-musicians have more freedom than the musicians who are stuck in the large institutions of the music world (Kahn, 2001, p.104).

From Arabic Music to the Noises of War

What upsets Tarek Atoui and his musician colleagues in Beirut the most is when international art organizations, music lovers, and ethnomusicologists from the United States and Europe argue that their music sounds too Westernized. They often feel pressured to introduce more elements from Arabic music, a style they are often unfamiliar with for various reasons. For example, the European style teaching of Arabic music let many musicians flee away from this musical canon (Burkhalter, 2007, 2011, Racy, 2003, Touma, 1998). According to today’s musical avant-garde in Beirut the demand to introduce more Arabic music is simply dim-witted – and some of these artists have learned how to confront what they call the Orientalist demand.

Mazen Kerbaj opened this debate on the interrelation between music and the sounds of the Lebanese Civil War while being interviewed by a German journalist. «Maybe one hears the Lebanese Civil War in our playing, I told the journalist», Kerbaj told me during one of our interviews. «Sharif and Christine Sehnaoui, who sat next to me, almost burst into tears from laughter when they heard me say this.» Was Mazen Kerbaj’s answer simply a strategic move to answer the frequent questions about «authenticity» and «locality» that foreign journalists, international funders and scholars continue to ask? Or was it more? It is certainly an interesting answer to a challenging question: How are sounds heard during one’s childhood and youth translated into one’s later artistic expression? Indeed, the blubbering, jarring and clapping sounds that Kerbaj produces on his trumpet seem to resemble the sounds of rifles and helicopters. Is this more than just the imagination, or simply wishful thinking? If we seriously analyze the issue, it becomes clear. The surroundings in which one grew up have an impact on the music of a musician. However, this impact takes place on the deepest levels of musical creation, not necessarily on the surface. However, superficially, one could read these strategies of working with the sounds of war as a move not to «disappoint» international audiences. One could critically argue that the “exotic” flavor of the sounds of war replaces that of Arabic music. Particularly outside the field of music, many Lebanese artists who present their works internationally use memories, images and audio samples from the Civil War (or from the 2006 war between Israel and Hizbullah), some of which are hidden and others readily apparent. In doing so, they create a certain «locality» or even «authenticity». Atoui is extremely critical of these artistic strategies; however, he knows all too well that this topic is too complex to judge quickly and easily.

Some Beiruti musicians follow different paths to create local sound. Some follow the renewed transnational trend for psychedelic music, and the best of these work with psychedelic music from a perspective different from many of the musicians from Europe and the United States that work in the field. They are aware of what the samples they use represent within the Middle Eastern context, or at least, they understand the lyrics of the sampled song bytes.

Raed Yassin, a colleague of Tarek Atoui, manipulates sounds from Lebanese and Egyptian pop culture on his new label Annihaya. His pieces function on the aesthetical level primarily, as they become hidden audio-narratives that comment critically on social and political issues. In the worst case however, some of the Lebanese musicians do not know much about the psychedelic media samples they utilize, often because they grew up in the city within elite families, and thus pop culture from rural areas is rather foreign to them. I felt this strongly after the 2006 war, when many Lebanese video producers went to South Beirut and to southern Lebanon to film the destruction. Some of these artists were entering these areas for the first time, and in their short videos they often talked and behaved like tourists – thus, the gap between the avant-garde and the non-elite and rural-pop culture still exists today. Most of these Beiruti musicians studied in art schools, and not in the rather conservative National Lebanese Conservatory. Some of them grew up in huge villas as well.

In Jennifer Fox’s documentary film, Beirut – The Last Home Movie, we see Sharif Sehnaoui as a little boy. The film offers insight into the daily life of a well-off Lebanese family living in East Beirut. We see the family members working in the garden and cleaning the house, while we hear shooting and shelling nearby. To forget the harsh realities of war, the women depilate their legs, and the men compete in car races through the narrow streets of the Lebanese mountains. Often times, the family sits together in the shelter with friends from the neighborhood during heavy bombardments. Little Sharif and the other children have the attention of the whole family upon them, as they play games, watch animated cartoons and are allowed to stay up late. Everyone ignores even the loudest explosions. Imprisoned by the war, the family creates its own private world, in which they pretend to live an ordinary everyday life. Despite attempts to convince themselves and their children that everything is okay, in the end this strategy does not work, argues the Lebanese anthropologist Samir Khalaf. The war affected all the Lebanese, with even the rich and educated suffering from trauma. While one should not judge the elite for being better off, their experience should probably not be compared to the experiences of those from the poorer groups. «There is hardly a Lebanese today who was exempt from these atrocities either directly or vicariously as a mediated experience. Violence and terror touched virtually everyone.» (Khalaf 2002, p.236) Among these elite musicians, some saw the death of family members or friends with their own eyes.

From our first conversation, Tarek Atoui convinced me with his clear and cogent positions on these complex and delicate topics and questions. He tries hard not to mix his role as a musician with his role as a social actor and a human being. Within his music, he strays close to the European concept of creating art for art’s sake. Art for art itself is political, because it aims to inspire people to move beyond commercialism, propaganda, and in his case Orientalism, a necessity for not only Lebanon, but for the transnational music worlds as a whole. Atoui believes that artists can play a direct role in changing societies as well, thus why he works on social projects and in workshops. However, these are separated clearly from his artistic career.

For me, this again puts him within the ranks of the new avant-garde of the twenty-first century. This new avant-garde evolved outside the Euro-American world and it creates increasingly strong artistic and political positions. Artistically, it renders music that is between pop culture and music as art. The range of musical variety is wide. On one side of the extreme, we find styles like kudoro, kwaito, baile funk and nortec, which some scholars call global ghettotech (Marshall, 2009). These styles are to a certain extent an updated version of what Eshun calls afrofuturism (Eshun, 1999, Goodman, 2010). On the other extreme, we find artists working in such genres as free improvisation, musique concrète and glitch (Prior, 2008, Kraut, 2009). These artists deal with concepts like anti-Orientalism and alternative modernity, and they are as close to Futurism as they are to afrofuturism. Politically however, these musicians often do not believe in big political ideas anymore, and they often do not present direct politics in their music. The Lebanese musicians, for example, do not feel close to the leftist protest singers of the Lebanese Civil War, like Marcel Khalife, Khaled al-Habre or Ahmad Qaboor. If anything, they prefer the Lebanese singer and musician Philemon Wehbe who during the Civil War released a cassette with the song, «Lebanon, They Fucked You All».

In addition, the new avant-garde is no longer interested in the clear divisions between the so-called first and third world. They network and collaborate freely with musicians in Europe and the United States as equals. In my last Skype conversation with Atoui, one of his sentences really stuck with me. On my own network, www.norient.com, I perform the piece «Sonic Traces: From the Arab World», an audiovisual journey through sounds, music and noises from the Arab World. Three Swiss (including myself) play on stage, and sometimes a guest from the Arab World (for example, Raed Yassin) plays with us, whenever an organizer can afford the airfare. Tarek Atoui told me to contact Sharif Sehnaoui to perform at the 10th Irtijal Festival for Improvised Music in Beirut. We intend to do so, most likely in 2011; however, we are a bit worried. Three Swiss people talking to an Arab audience about music in the Arab World, Will this work? «Don’t worry», Atoui told me directly, «We create our music in transnational niche circles, beyond nationalities. You are one of us.»

Tarek Atoui and his colleagues in Beirut represent the new avant-garde of the 21st century. They challenge the Euro-and US-centric views of innovation in music, and are part of Music 2.0 niche networks. They create music in small studios, rather than in big radio studios like those from the earlier avant-garde. Their music speaks from a specific, non-Eurocentric position, and does not come with political or artistic manifestos. It is not Futurism, nor is it afrofuturism, and it is often unstable and not always clear in its focus. It is searching to find transnational artistic positions beyond Orientalism, consumerism and propaganda.

After a brilliant and moving concert with the Staalplaat Sound-System at the Transmediale Festival in Berlin in 2008, Atoui was very angry. «We fucked up, we lost control», he told me unhappily after the performance. This is what today’s world is about, I thought. We are surrounded by information, by war, by terror and by an enormous volume of media sources. One could argue that Atoui creates the soundtrack of the 21st century, which would fit with Anthony Storr’s idea that music is an attempt to «create sense out of chaos» (Storr, 1992). According to him, music is not an escape from «real» life, but rather a way of ordering human experience. At least Atoui and some of his Beiruti colleagues seem to come closer to the cry of the Pop Art generation: Art is life and life is art.

This essay was first published at Bonner Kunstverein:

Burkhalter, Thomas. 2010. «Tarek Atoui – or: Reflections on the New Musical Avant-Gardes of the 21. Century». In Indicated by Signs. Bonner Kunstverein, Goethe Institute Kairo.

Bibliography

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Asmar, Sami. «Remembering Zaki Nasif: A Lebanese Musical Odyssey.» Al Jadid Magazine 2004, 46/47 ed. —. «Tawfiq al-Basha (1924-2005) – Passion for Modernizing and Popularizing Instrumental Arab Music.» Al Jadid Magazine 52 ed.

Blacking, John. How Musical is Man? London: Faber Faber, 1976.

Burkhalter, Thomas. Creating Sense out of Chaos: New Sounds from Beirut. 2011 (Forthcoming).

Burkhalter, Thomas. «Mapping Out the Sound Memory of Beirut: A Survey of the Music of a War Generation.» Itinéraires Esthétiques et Scènes Culturelles Au Proche-Orient. Ed. Franck Mermier. Beirut: Institut Francais du Proche-Orient, 2007.

Erlmann, Veit. Hearing Cultures – Essays on Sound, Listening and Modernity. Berg Publishers, 2005.

Eshun, Kodwo. Heller als die Sonne: Abenteuer in der Sonic Fiction. Berlin: ID Verlag, 1999.

Goodman, Steve. Sonic Warfare: Sound, Affect, and the Ecology of Fear. Massachusetts: Massachusetts Institute of Technology, 2010.

Jauk, Werner. pop/music + medien/kunst: Der Musikalisierte Alltag der digital culture. Osnabrück: Electronic Publishing Osnabrück, 2009.

Kahn, Douglas. Noise, Water, Meat: A History of Sound in the Arts. Cambridge, Massachusetts: MIT Press, 2001.

Khalaf, Samir. Civil and Uncivil Violence in Lebanon – A History of the Internationalization of Communal Conflict. New York: Columbia University Press, 2002.

Kraut, Peter. «Verständigungsprobleme unter Nachbargemeinden – Pop und Kunstmusik: zur Gleichzeitigkeit zweier avancierter Musikgenres.» Dissonanz 107 (2009): 18-21.

Mainguy, Marc-Henri. La Musique au Liban. Beirut: Les Editions Dar An-Nahar, 1969.

Marshall, Wayne. «Global Ghettotech vs. Indie Rock: The Contemo Cartographyof Hip.» Wayneandwax, [Link].

Marshall, Wayne, Rivera, Raquel Z., Deborah Pacini Hernandez (eds.). Reggaeton, Durham and London. London: Duke University Press, 2009.

Prior, Nick. «Putting a Glitch in the Field: Bourdieu, Actor Network Theory and Contemporary Music.» Cultural Sociology 3 (2009): 301-319.

Racy, Ali Jihad. Making Music in the Arab World – The Culture and Artistry of Tarab. Cambridge: Cambridge University Press, 2003.

Ross, Alex. The Rest is Noise: Listening to the Twentieth Century. New York: Farrar, Straus and Giroux, 2007.

Russolo, Luigi. «Die Kunst der Geräusche.» Schott Musik International (Edition Neue Zeitschrift für Musik) (2005).

Stone, Christopher. Popular Culture and Nationalism in Lebanon – The Fairouz and Rahbani Nation. New York: Routledge, 2008.

Storr, Anthony. Music and the Mind. New York: The Free Press, 1992.

Touma, Habib Hassan. Die Musik der Araber. Wilhelmshafen : Noetzel, Heinrichshofen-Bücher (Erweiterte Neuausgabe), 1998.

Weinrich, Ines. Fairuz und die Brüder Rahbani – Musik, Moderne und Nation im Libanon. Würzburg: Ergon Verlag, 2006.

Witt-Stahl, Susann. …But his soul goes marching on – Musik zur Ästhethisierung und Inszenierung des Krieges. Karben: Coda, 1999.

Soundscape-Aktivismus und Komposition

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Murray Schafer gilt als der Begründer der Soundscape-Forschung. Wie beeinflusst unsere akustische Umgebung uns als Menschen? Dieser Frage geht Murray Schafer seit den 1950er als Komponist, Hörforscher, Musikpädagoge und Anti-Lärm-Aktivist nach. Er ist ein Mann mit einer akustischen Vision, vielen Verehrern und einigen Kritikern. Thomas Burkhalter hat Murray Schafer an einer Soundscape Konferenz im Finnischen Koli zum Gespräch getroffen. Ein Portrait.

Auf die Komposition «The Vancouver Soundscape» wird Murray Schafer fast immer angesprochen. «The Vancouver Soundscape» entstand 1973 in Vancouver, der drittgrössten Stadt Kanadas. Murray Schafer war damals Leiter des World Soundscape Project, einer Gruppe von Klangforschern vom Institut für Kommunikation an der lokalen Simon Frazer Universität. Wie verändert sich unsere akustische Umgebung – das interessierte Schafer. Und: Wie nimmt unser Ohr Informationen auf. Schafer und seine Forschungsassistenten Barry Truax, Hildegard Westerkamp, Peter Huse, Bruce Davis und Howard Broomfield zogen also mit Aufnahmegeräten und Spezialmikrophonen los, und sie fingen die verschiedenen Lärm- und Geräuschquellen von Vancouver ein. Sie fragten auch die Leute: Wie hört ihr Eure Stadt? Welche Geräusche gefallen Euch – und welche nicht? Es entstand eine Sammlung von Geräuschen aus Vancouver. Und eine Sammlung von Anekdoten darüber, wie es früher geklungen hat in Vancouver. Da war alles dabei: Schiffshörner, das Quietschen der Züge, bis zu Erzählungen von Indianern in den Reservaten.

«The Vancouver Soundscape» war eigentlich als eine reine Dokumentation gedacht, als ein Katalog von Umweltgeräuschen. Klaus Schöning vom Kölner HörSpielStudio hatte aber eine andere Idee: Für den WDR stellt er die Aufnahmen zu einer musikalischen Komposition zusammen. Das war die zündende Idee, sagt Murray Schafer heute. Das Genre Soundscape-Komposition war geboren. Komponisten und Musiker weltweit nahmen jetzt ihre akustische Umgebung auf und verarbeiteten sie zu Kollagen. Für Schafer selber eine ziemliche Überraschung.

Murray Schafer arbeitete bald für das kanadische Radio CBC. «The Soundscapes of Canada» hiess eine seiner Produktionen. 1975 reiste er dann nach Europa. Dort nahm er die Geräusche und Klänge in fünf Dörfern auf: «Five European Villages», hiess das Projekt. Tag und Nacht nahm die Gruppe auf – nicht bloss die Kirchenmusik, sondern auch den Verkehr vor der Kirche. Musikethnologen untersuchten damals vorwiegend Volksmusik, Schafer aber analysierte Dörfer anhand ihrer Geräusche. In jedem Dorf fand er andere Klänge und Geräusche; überall aber ähnelte sich der akustische Rhythmus von Tag und Nacht. Schafer notierte alles fein säuberlich: Zu welcher Zeit stehen die Leute auf? Wann hört man die Kinder, wann die Frauen, wann die Männer?

Die Musique Concrète setzt meistens auf Akusmatik: Das akustische Grundmaterial wird komplett in einen neuen Kontext übersetzt; die Originalsubstanz eines Klangs ist nicht mehr erkennbar. Die Soundscape-Komposition ist für Murray Schafer mehr: – Er und seine Kollegen von der Frazer Universität haben sogar einen Prinzipienkatalog aufgestellt: 1) Das akustische Originalmaterial bleibt für den Hörer erkennbar; 2) Der Hörer lernt über das Hören einer Soundscape-Komposition eine real existierende Landschaft besser kennen 3) Das akustische Originalmaterial in der originalen Landschaft beeinflusst die Ästhetik und Form der Soundscape-Komposition auf allen Ebenen. 4) Die Soundscape-Komposition verändert unser Wissen und unsere Wahrnehmung der Welt. Soundscape-Komposition wird so zu einem Forschungszweig der Akustischen Ökologie. Es geht immer um Orte, Zeitfragen, die Umwelt und um Hörerfahrungen.

Eines ist für Murray Schafer zentral: Der Soundscape-Forscher sollte sich tiefgreifend mit der akustischen Umgebung vertraut machen, die er vertonen will. Manche Komponisten stehlen die Geräusche sozusagen aus ihrer Umgebung, findet er. Seine Studenten zum Beispiel: Sie haben Frösche aufgenommen, ohne zu wissen, was für Frösche das eigentlich sind. Schafer passte das gar nicht. Es geht Schafer nicht nur darum, mit teuren Geräten herumzureisen und alles aufzunehmen, was einem grad so über den Weg läuft.

Zum Podcast

Diese Sendung wurde ausgestrahlt am Mittwoch 23.3.2011 in «Musik unserer Zeit» auf Schweizer Radio DRS2.

Literatur-Tipp

Järviluoma Helmi & Kytö Meri & Truax Barry & Uimonen Heikki & Vikman Noora. Acoustic Environments in Change & Five Village Soundscapes. TAMK University of Applied Sciences. Series A. Research papers 13. University of Joensuu, Faculty of Humanities, Studies in Literature and Culture 14.

Tracklist

The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. The Music of Horns and Whistles, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Squamish Narrative, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Winter Images, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Cembra, Eastern Evening, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. A Children’s Church Service, and the Bells of Blissingen, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Morra, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
Murray Schafer. On Acoustic Design, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
Murray Schafer. The Crown of Adriana (The Schafer Ensemble featuring Judy Loman), Opening Days Recordings ODR9307
Murray Schafer. 3rd String Quartett (Mollinari Quartet & Marieä-Danielle Parent), ATMA Classique
Murray Schafer. Princess’ Aria (The Schafer Ensemble featuring Judy Loman), Opening Days Recordings ODR9307
Murray Schafer. Tapio for Alphorn, Canadian Music Centre CMCCD8902
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Ocean Sounds, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Dance of the Inscets, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Snow Games, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
Murray Schafer, Claude Schryer. Winter Diary, BMG Ariola Classics 73522 2

Die Stadt als Schlagwerk

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Aus einer Bibliothek von 23'000 Soundfiles – vom Aktenvernichter bis zum Absaugrohr, von der Planierraupe bis zum Bauchspeck – schufen schwedische Musiker und Filmemacher eine Symphonie von Malmö. Ein Interview mit dem Regisseuren des Films Sound of Noise.

Man nehme eine Handvoll Musiker mit krimineller Energie und das Mobiliar einer Spiesserwohnung. Heraus kommt der Kurzfilm „Music for one apartment and six drummers“- ein auf youtube millionenfach angeklicktes, absurdes Lehrstück für alle Perkussionisten. Mit Klo- und Zahnbürste, Schlaftabletten, Mixer, Eieruhr und Staubsauger schichten die Eindringlinge Rhythmen, erschaffen Kleinode zwischen Küchen-Funk und Toiletten-Drum’n’Bass.

Doch Haushaltmusik war gestern: Regisseur Ola Simonsson hat seine Truppe erneut zusammengetrommelt und wagt nun mit dem kompletten Feature-Film Sound of Noise den Sprung zum denkbar größten Instrument: eine Stadt.
 Seine sechs Helden sind sämtlich vom herzlosen und eingefahrenen Musikbetrieb enttäuscht, sie verdienen ihre Brötchen etwa als Schlagzeuger einer bräsigen Showband, als gelangweilter Paukenschläger für die berühmte Haydn-Symphonie. Und so greift das Sextett um den nerdigen Komponist Magnus Börjeson und die herrlich unterkühlte Sanna Persson zum äussersten Mittel: Mit gezielten musikalischen Terroranschlägen auf Malmö unterminieren sie das Establishment. Und realisieren dabei eine groteske Partitur in vier Sätzen mit punkiger Energie, technoidem Flair und Industrial-Anleihen: Sie entern ein Krankenhaus und machen den OP-Saal inklusive Patient zum Schlagwerk. Mit dem Schlachtruf «Hands up, this is a gig!» wird groovend eine Bank überfallen. Der Aufführung einer Symphonie fahren sie mit Bulldozer und Presslufthammer in die Parade. Und schliesslich hämmern sie gar aus dem städtischen Stromnetz eine monströse Klang- und Lichtshow. 


Ein Jahr lang haben Simonsson und seine Perkussionisten nach Objekten und Gebrauchsgegenständen gesucht, die sich für ihre Zwecke verwenden liessen. Aus einer Bibliothek von sage und schreibe 23’000 Soundfiles, vom Aktenvernichter bis zum Absaugrohr, von der Planierraupe bis zum Bauchspeck wurde diese unorthodoxe «Symphonie der Grossstadt» dann zusammengesetzt. Geholfen hat der französische Klangkünstler Nicolas Becker, der auch für den Sound der Harry Potter-Filme verantwortlich ist. Verwöhnt durch die handwerkliche Dichte des vorangegangenen Kurzfilms hätte man sich als Zuschauer/-hörer natürlich noch mehr und längere Klangattacken gewünscht. Doch es muss ja auch Platz bleiben für einen Gegenspieler der Musikterroristen, verkörpert durch den komplett unmusikalischen Ermittler Amadeus (!) Warnebring (Bengt Nilsson). Mit Minderwertigkeitskomplexen gegenüber seinem Bruder, einem Stardirigenten, behaftet, will er nicht nur die Musiker, sondern die Musik überhaupt zur Strecke bringen. Ob ihm das gelingt, zumal er sich in die Perkussionistenchefin Sanna verliebt? So viel sei verraten: Warnebring, der von einem «Sound Of Silence» träumt, wird am Ende Zeuge einer veritablen «Electric Love»


Interview mit Ola Simonsson, Regisseur von Sound Of Noise



[Stefan Franzen]: Herr Simonsson, woher kommt Ihre Obsession für Perkussionsinstrumente?


[Ola Simonsson]: Ich denke nicht, dass es eine Obsession für Perkussion ist, mein Antrieb ist eher, Musik aus Alltagsgegenständen zu produzieren. Die Musiker im Film trommeln ja auch nicht einfach auf allem herum, sondern versuchen, Töne und Akkorde auf bestimmten Gegenständen zu fabrizieren. Nach dem Kurzfilm Music For One Apartment And Six Drummers haben wir ständig weitergeforscht, auf was für Objekten sich spielen liess, und irgendwann entschieden wir dann, dass wir einen abendfüllenden Film wagen sollten.

[SF]: Gab es für diese Brücke zwischen hör- und sichtbarer Rhythmik irgendwelche Vorbilder in der Filmgeschichte?
[OS]: Wir haben uns gar nicht viele andere Filme angeschaut, sondern darauf konzentriert, unsere eigene Sprache zu finden, was natürlich manchmal heissen kann, dass man das Rad neu erfinden muss. Aber so konnten wir unseren Stempel aufdrücken, niemanden kopieren. Wir glauben im übrigen, dass jeder diese Musik machen kann und ermutigen die Leute dazu! Es wäre toll, überall auf der Welt neue Snare- und Bass-Drums zu haben, also öffnet eure Ohren und hört auf eure Umgebung! Ein Beispiel: Als ich am Computer die Sounds für den Kurzfilm zusammensetzte, da fing meine Frau – auch eine Musikerin – in der Küche an, auf dem Mixer zu spielen.

[SF]: Nur für die Statistik: wie viele Musikinstrumente wurden im Film zerstört?


[OS]: (lacht) Das war schmerzhaft für mich, denn ich bin selber Musiker. Doch wir mussten es tun für diese eine Szene. Ich habe sie nicht gezählt. Wir haben versucht Instrumente zu finden, die noch gut aussahen, aber nicht mehr spielbar waren. Bengt Nilsson, der den Kommissar spielt, hat sich so aufs Kaputtmachen konzentriert, dass er danach für ein paar Minuten nicht mehr ansprechbar war. Er ist ja in seiner Zerstörungswut auch sehr überzeugend.



[SF]: Wie entstanden die Sounds, die wir im Film hören?


[OS]: Wir haben ein Jahr lang mit den Drummern und dem französischen Soundkünstler Nicolas Becker daran gearbeitet, das ist der Mann, der auch für die Harry Potter-Filme die Klänge gemacht hat. Im Verlauf dieses Jahres hatten wir fünf Aufnahmesessions über mehrere Tage. Dafür wurden eine Menge von Instrumenten und Objekten zusammengetragen, die Drummer haben versucht, dafür Sounds und Rhythmen zu finden, die wir dann aufgenommen haben. Für die Szene vor der Oper zum Beispiel haben wir Baumaschinen und Bulldozer gefunden, die sehr alt waren. Die neuen sind leise, wir aber brauchten knallende Türen, heftige Motoren. Am Ende hatten wir eine «Bibliothek» von 23’000 Files auf dem Rechner und wurden fast verrückt, wegen der vielen Optionen, aus denen sich die Stücke bauen liessen. Das Shooting funktionierte dann eher wie in einem Rockvideo. Wir liessen den Sound, den wir aus den Files zusammengesetzt hatten, im Hintergrund laufen, und die Drummer agierten dazu.



[SF]: Würden Sie zustimmen, dass der Featurefilm eine Art Technoversion des Kurzfilmes ist, was den Sound angeht? Der Kurzfilm war ja sehr akustisch und Sound Of Noise wird vor allem gegen Ende eher hart …


[OS]: Den Techno haben wir nie diskutiert, eher den Punk. Wir haben Einstürzende Neubauten und The Prodigy gehört, Musik mit grosser Energie. Anfangs wollten wir bei akustischen Instrumenten bleiben, aber das wäre fast in Richtung südamerikanische Party abegdriftet, und diesen Stil wollten wir nicht. Als wir uns dann für elektrische Instrumente entschieden, wurde es cooler.



[SF]: Im vierten Satz hängen die Musiker an Starkstromleitungen. Wurde das mit Stuntmen gedreht?
[OS]: Es gab einen Moment, in dem wir versuchten, die Musiker an die Kabel zu bringen, aber es war zu gefährlich. Ich meine: Wer kann garantieren, dass keine Spannung auf der Leitung ist? Selbst wenn wir das mit den Stromversorgerfirmen abgesprochen hätten: Ich würde da nie raufgehen. Wir machten in Malmö ein altes Ausbesserungswerk für Lokomotiven ausfindig, dort gab es eine Traverse über die man Kabel hängen konnte. Die Drummer waren also in einer Höhe von fünf Metern an diesen Kabeln, und den Rest haben wir mit Blue Screen getrickst. 



[SF]: Was machen die Drummer eigentlich im wirklichen Leben? Wurden Sie, wie Sanna im Film, tatsächlich von der Musikhochschule exmatrikuliert?
[OS]: Ich bin selbst auf die Musikhochschule gegangen und habe einige von ihnen dort kennen gelernt. Die Band hat vor dem Kurzfilm nicht existiert. Sanna, das einzige weibliche Mitglied, ist eine Schauspielerin, die anderen sind schauspielernde Trommler. Doch während wir den Kurzfilm machten, lernten wir die Charaktere der einzelnen Leute kennen wir wussten: Ok, dieser Typ sollte die delikateren Instrumente spielen, der dagegen ist eher der elektrische Typ, der der Solist. Im Featurefilm werden die Charaktere noch ausgebaut.



[SF]: Im Plot wird ja auch in gewisser Weise ein Kampf zwischen dem etablierten Musikbetrieb und dem Untergrund ausgetragen…


[OS]: Das würde ich so nicht sagen. Ich betone, dass ich viel klassische Musik gespielt habe, und ich mochte das. Zugegeben: Das Haydn-Stück, die «Symphonie mit dem Paukenschlag», die im Film vorkommt, ist ein bisschen doof. Aber es geht mir darum zu zeigen, dass Musik nicht in Kategorien eingeteilt werden sollte, und das passiert jedem Stil. Im klassischen Musikbetrieb herrschen Lehrmeinungen vor, dass man ein Stück genauso und nicht anders zu spielen habe, vor allem in der Alten Musik, in der Renaissance. Im frühen Jazz dagegen war die Freiheit eine Maxime, das Lustprinzip. Heutzutage allerdings ist der Jazz wieder eine intellektuelle Angelegenheit geworden, auch hier findet man wieder Festlegungen, ein Diktat der Ausführungen, bis in den HipHop hinein findet man die Stilpolizei. Das tötet die Musik. Darum geht es mir: Meine Kritik bezieht sich auf diese Engstirnigkeit der Ausübenden.



[SF]: Die Musiker Ihres Filmes werden von Kommissar Warnebrink und der Malmöer Polizei auch als Terroristen gesehen. In einer Szene werden vorsichtshalber alle möglichen unschuldigen Musiker verhaftet – das weckt Assoziationen an gewisse weltpolitische Geschehnisse.
[OS]: Natürlich hatten wir das mit im Hinterkopf. Was wir im Kurzfilm etabliert hatten, das war die Verbindung von music and crime. Eine sehr frische Perspektive, Musiker als Verbrecher zu sehen. Auch auf dem Hintergrund der Binsenweisheit, dass es – für Regime und Diktatoren – sehr schwierig ist, einen Song zu töten. Sie haben Angst vor der Macht der Musik. Schauen Sie sich an, wie die Leute in Russland Kassetten von Wladimir Wyssozki schmuggelten und das Regime keine Handhabe dagegen hatte. Auch beim ANC in Südafrika spielte Musik eine sehr wichtige Rolle, um das Apartheidsystem zu stürzen.

Kommissar Warnebrink, der die Musiker zur Strecke bringen soll, träumt von einer Musik, die aus Stille gemacht ist.

[SF]: Versteckt sich in Ihrem Film auch eine Kritik an der Dauerberieselung?


[OS]: Es ist kein politischer Film. Aber als Musikliebhaber fällt mir die Dauerbeschallung natürlich schon auf. Ich sitze mit Ihnen in der Hotellobby und wir hören Musik, ist die hier wirklich nötig? Im November kommt aus allen Kaufhauslautsprechern «Stille Nacht». Während der kommunistischen Ära hatten sie speziell designte Arbeitslieder, damit die Leute effektiver und mehr arbeiteten. Auf der anderen Seite haben wir Entspannungsmusik, die mich an George Orwell denken lässt. Der Markt diktiert heute, dass Musik überall ist. Du kaufst mehr, wenn du in Stimmung gebracht wirst. Ich will selbst entscheiden können, wann ich Musik höre. Stille ist nichts Schlechtes, ich mag Stille. Meine Grossmutter kam noch aus einem kleinen schwedischen Dorf, da gab es nicht viel Musik unterm Jahr, kein Radio, kein Grammophon. Wenn Weihnachten nahte, dann freute sie sich drauf, weil sie in die Kirche gehen konnte und dort «Stille Nacht» hörte, von einem ganz speziellen Sänger gesungen. Heute, wo alles nur noch einen Click entfernt ist, haben die Leute eines verlernt: sich nach Musik zu sehnen.


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