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Channel: Musique Concrète – Norient

Uferlose Schalldämpfung

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Seit rund zehn Jahren veröffentlicht das Augsburger Drone-Ambient-Produzenten Label «Attenuation Circuit» CDs in kleinen limitierten Auflagen. Bei «Attenuation Circuit» stehen KünstlerInnen aus den Grenzbereichen zwischen experimentellen Musikgenres wie Drone, Noise, Musique concrète, Industrial und elektroakustischer Improvisation im Zentrum. Aus der norient-Serie von Brainhall.

In der Sendung werden Ausschnitte der «Attenuation Circuit»-CDs vorgestellt: EMERGE, das Soloprojekt des Labelgründers Sascha Stadelmaier, B°TONG, DAS AUDIO-VISUELLE KOLLEKTIV, das Noise Projekt ORIFICE, das Duo ZANDER/FIEBIG und SGHOR. Die Labelbetreiber Sascha Stadelmaier und Gerald Fiebig haben sich in Augsburg für brainhall über „Attenuation Circuit“ unterhalten und stellen uns in dieser Sendung Produktionen und Projekte des Labels vor.

Gerald Fiebrig und Sascha Stadelmeier von «Attenuation Circuit» (Foto: Annette Zoepf 2011)

Dieser Podcast stammt aus einer norient-Serie mit dem Art Production Label Brainhall. Brainhall sendet auf Radio LoRa.

brainhall zehn: Gerhard Zander/Gerald Fiebig: Modul 2

«Attenuation Circuit» auf Myspace

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Sein Zuhause Komponieren

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Ich wuchs auf in einer ruhelosen Welt. Im Haus meiner Grosseltern, im Bombay meiner Kindheit war Stille ein kostbares Gut. Alles war laut, durch die immer offenen Fenster drängten die Straßen in die Zimmer, mit ihren kreischenden Hupen, knatternden Dieseln, den melodischen Schreien der fahrenden Händler. Auch im Haus schrie man selbst dann, wenn man es sachlich meinte: um das unaufhörliche Brausen der Stadt im Wohnzimmer zu übertönen, hatten meine Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins ihre Stimmen zu kräftigen Organen erzogen.

Nie war man allein. Aus der Küche drangen Zisch- Brutzel- und Hackgeräusche, aber auch jene oft in lautem Gekeife oder Gelächter kulminierenden Debatten in drei Sprachen – Gujarati, Marathi und Englisch – die sich nahtlos ins Esszimmer und in den Shivaji Park gegenüber fortsetzten, wo jeder Sonntag mit endlosen Lautsprechertests begann, Probeläufen für politische Massenveranstaltungen, deren geifernde Appelle regelmässig den Hof und die Bäume vor unserem Haus überschwemmten. Darin punktierten Affen, Tauben, Mynahs und Krähen den allgegenwärtigen Lärm, aber auch die stillsten Minuten, kurz vor Tag, in jener verhaltenen, verwunschenen Zeit, in der das Hecheln hunderter Morgengymnasten den Tag begrüßte, Tennisbälle und –rufe, das Klackern der Bambusstäbe, die in wie rituelle Tänze anmutenden Verrenkungen aneinandergeschlagen wurden. Manchmal konnte man, in diesen kurzen Minuten des Zwielichts, tatsächlich das nahe Meer rauschen hören, der Bordun für all die bald darauf einsetzenden Morgengesänge aus den Häusern rundum, und für die ferneren Rufe der Muezzins.

Die Welt war ein brodelndes Miteinander verschiedenster Klänge, menschlicher, technischer, natürlicher – und von Musik. Die singenden Rufe der Bettler, die blechern und quäkend lärmende Fröhlichkeit der Hochzeitsbands, die jeden Winter zu einem monatelangen Fest werden liess, die kreischenden Radios, die obsessive musikalische Beschallung jedes Unterfangens im öffentlichen Raum diente nicht, wie hierzulande, der Erzeugung klingender Schutzglocken vor dem Alltagslärm, sondern erzeugte, dendritengleich, ein Netz von Beziehungen: da sang die Tante in der Küche das Lied aus einem vorbeifahrenden Taxi mit, hupte der Taxifahrer im Rhythmus der an ihm vorbeiziehenden Prozessionsmusik, die wiederum Filmschlager intonierte, die aus einem der Läden am Strassenrand quollen.

Jeder hörte, jeder machte aber auch Musik: Fast jeder ältere Mensch, der mir in Indien nahe war, sang täglich seine Gebete und Lieder vor sich hin, in einer melodischen Komplexität, die mir noch heute erstaunlich erscheint. Klassische und populäre Musik bedeuteten nicht musikalische Kategorien, sondern verschiedene Stufen der Aneignung: alles, was man wiederholen konnte, mit sich singend im Alltag umhertragen, war populär – klassische Musik war dagegen das Unwiederholbare, das den Moment des Hörens und Machens herausschälte aus der ewigen Wiederholung der Welt.

Die Welt war eine Haut aus Lärm, in der man geborgen war, die einen nicht in Ruhe ließ. Dann kam ich nach Deutschland, aufs schwäbische, später norddeutsche Land, mit seinen geschlossenen Fenstern, den großen Schallschluckern Regen und Schnee, den wortkargen Konversationen im Unterton. Vorher war mein Elternhaus fast eine Insel der Stille im indischen Alltag gewesen, jetzt waren wir immer und überall, wo wir wohnten, die lautesten Nachbarn.

Was ich mitnahm aus Indien, war das Bewußtsein dafür, dass kein Klang je alleine daherkommt – aber auch die Sehnsucht nach dem köstlichen Geschmack der Stille und der Kraft, die aus ihr entsteht. In Hammah, dem niedersächsischen Dorf meiner Jugend am Rande des Sterneberger Moors, wurde ich in der regenrauschenden Stille der einsamen Nachmittage zum Komponisten, der Töne aufsuchte und aus der Erinnerung klaubte. Unbeholfen anfangs (und eigentlich noch immer), aber unbeirrt in meiner Suche nach dem sich immerzu wandelnden, und genau aus diesem Grund letztlich intellektuell undurchdringlichen Zusammenwirken disparater Klänge.

Tatsächlich hat mich Musiktheorie bei aller intellektuellen Lust, die sie mir ermöglichte, nie wirklich gefesselt, ihre pseudo-mathematischen Spiele und pseudo-histologischen Präparate, seien es Skalen, harmonische Analysen, Frequenzraster, Formmodelle, Mikrotöne, die mich allesamt sehr lange Zeit selber verwirrten, vom Komponieren dessen, was ich wirklich suchte, abhielten – heute erscheinen sie mir als ebenso viele Mittelchen gegen die Folgen einer frühkindlichen akustischen Mangelernährung. Ihre bedauerlichen Opfer schneiden sich in heroischer Geste die Ohren ab, um den Tumult (und die Süsse) der Welt nicht ertragen zu müssen. So wollte ich nicht leben.

Mein kompositorischer Umgang mit den verschiedenen Klangwelten, in die ich geworfen wurde, und auch jenen, die ich später aufzusuchen begann, arbeitet sich keineswegs an einer Konjunktion musiktheoretischer oder klanglicher Kulturphänomene ab. Das würde meinem Empfinden nicht gerecht. Mein Weg in diesem terrain vague ist ganz persönlich, aber darin vielleicht auch verbindlicher. Er lebt von dem aus meinem Werdegang erklärlichen akustischen Gefälle zwischen Grossstadt und Land, zwischen Gesang und Geräusch, vor allem aber zwischen den Regeln des Zusammenseins – und der prinzipiellen Unvorhersehbarkeit von Harmonie und Bedeutung.

Einige meiner neuesten Arbeiten wie «Inside A Native Land» oder «Mora» erforschen vor allem das letzte Gefälle: wie kann man viele musizierende Individuen musikalisch einander zuhören lassen, ihnen Regeln geben, die ihnen den Kontakt zueinander erleichtern – und wie kann man dann aus diesem Kontakt Bedeutung entstehen lassen, eine Bedeutung, die ich als Komponist selbst noch nicht kenne, die jedoch auch über den Moment der Entstehung hinaus wirksam bleiben kann. Noch sind es nahezu monochrome Tableaux, die ich da entwerfe, in denen das Wuseln der Klänge sich vorerst auf wenige Gesten beschränkt, akustische Snapshots aus meiner Erinnerungstruhe, die Geschichten nur zwischen den Bildern erzählen.

Vielleicht ist das, so denke ich manchmal, überhaupt immer so, dass Bedeutungen nur im Zwischendrin entstehen. Hier ein Kinderschrei, dort ein Klavierton, dahinter der Diesel eines Lastwagens, ein Bohrer in der Wand und ein paar Worte Türkisch von der Straße herauf – so klingt es in meinem Berliner Arbeitszimmer gerade: und das ist eine schöne Metapher für meine Art von interkultureller Musik. So komponiere ich mir auch mein musikalisches Zuhause.

Immer wieder höre ich ich im Westen, dass wirkliche Musik nur aus der Stille kommen könne, aus der Stille der Welt. In Indien ist es dagegen die Lebensaufgabe eines klassischen Musikers, das Tosen der Welt mit heißem Bemühen in eine metaphysische Stille zurückzuführen.

Mir ist beides als Erfahrung nicht fremd – aber ich weiss: mein Glück als Musiker finde ich nur im Wechsel der Perspektiven, im Wirbel der Bedeutungen, in jener Gleichzeitigkeit des sich Fremdartigen, die mir ins Ohr brüllt, dass die Welt der Klänge formlos sei, ohne Ziel und ohne Gestalt, ein unzähmbares Flirren von Lebenszeichen und Klängen. Dann fühle ich mich wohl und bei mir. Und kann mich ruhig an meinen Schreibtisch zwischen all diesen Kulturen setzen – und komponierend in mich hinein dem lauschen, was von der rauschhaften Kakophonie der Welt, die mich jeden Tag meines Lebens durchweht, in meinem Hören hängen blieb.

Photo Credits

Picture one by: Wili Hybrid
Picture two by: fabian-f

Tarek Atoui: Digital Bricolage

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Reflections on the new multi-local musical Avant-Gardes of the 21st Century. An essay on the Lebanese musician Tarek Atoui, Luigi Russolo, Mazen Kerbaj and many artists more.

To me, Tarek Atoui represents the new, truly transnational musical avant-garde of the 21st century. Atoui was born in Lebanon in 1980, and like his contemporaries, he experienced the Lebanese Civil War (1975 – 1990) and was socialized by the sounds of war, soon learning to recognize weapons by their sounds alone. However, in 1998, his life as a cosmopolitan commenced. He had moved to Paris where he studied music at the French National Conservatoire of Reims and collaborated with IRCAM (Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique) at the Centre Pompidou in Paris. The French-funded IRCAM was founded by Pierre Boulez and hosted such famous teachers as Xenakis, Globokar and Nono. It was one of the biggest and wealthiest institutions of the avant-garde of the twentieth century (similar to studios of new music and electronic music in Germany and in different cities of the West).

One artist, often called a pioneer of this old musical avant-garde, was the Italian painter and Futurist Luigi Russolo. His famous manifesto from 1913, «The Art of Noises» glorified explosions, rifle fire and the dissonance of industrial machinery. To Russolo and such similar writers as Filippo Tommaso Marinetti, Paul Jünger and Paul Virilio, war resembled a fascinating aesthetic and mythical phenomenon, showing human kind in its whole beauty – both passion and reality (Witt-Stahl, 1999). Russolo and his fellow Italian Futurists encouraged innovation and wanted to outdo the German-Austrian classical music superculture (Ross, 2007). They no longer were moved by the increasingly complex and dissonant patterns of the great composers’ orchestra music, therefore they sought to include other noises and to create new instruments. To them, music was supposed to resemble the realities of modern life. Fascinated by war and its weaponry, many of the Futurists sided with Mussolini’s fascist regime. For some observers, the Futurists were simply a reactionary fascist group; however, for others, they seeded the ideas for many innovations to come.

From Rural to Urban Sounds of the Middle East

Tarek Atoui is well familiarized with Luigi Russolo and the other heroes of the musical avant-garde from Europe and was more than happy to share his MP3 and WAV files with me. In a hotel lobby in Amman we wired our laptops together, and I copied them all – tracks from Karlheinz Stockhausen, from Musique Concrète pioneers like Pierre Schaefer, Luc Ferrari, and Iannis Xenakis, who was of Greek decent. Xenakis, like many others throughout time and in different fields was fascinated by the sounds, melodies, rhythms and noises of the Orient.

On a side note, please listen to the Javanese Gamelan of Debussy, and to the later Orient hallucinations of the US-American jazz and pop avant-garde: the Beat Generation in the 1950s and the psychedelic rock and hippie movement in the 1960s. Psychedelic rock was hip in the Arab World as well. In Beirut alone nearly 200 bands performed psychedelic rock concerts and laid the foundation for the subcultural music scene in Lebanon. Listen to such composers as Bartok and Kodaly from Eastern Europe and Russia as well. For them, non-Western was often rural; however, to Tarek Atoui non-Western is urban. This is one of the many reasons why he belongs to the new, truly transformational avant-garde.

Nonetheless, Bartok and Kodaly influenced an entire generation of musicians and composers in Lebanon, the Rahbani Brothers and Fairuz, Zaki Nassif, Tawfik Sukkar, Tawfik al-Basha and others. From the 1950s onwards, supported by the radio stations Radio Lebanon and al-Sharq al-Adna and by the Christian political establishment, they created what is often referred to as Lebanese music. This style of music took elements from village music, removed some of the harsh sounding instruments, introduced European harmonies and made it accessible to the Beiruti bourgeoisie (Manguy, 1969, Weinrich, 2006, Stone, 2008, Asmar, 2001, 2004, 2005).

In 2005, Atoui returned to Beirut for the first time for a period of one week, during which time I met him in a fashionable bar in Hamra. Atoui had heard that musically, Beirut was on the move. Mazen Kerbaj, Sharif and Christine Sehnaoui began experimenting with free improvised music in the end of the 1990s and the scene had grown quite steadily, and was now ready. In terms of quality, musical pioneers such as the German saxophonist Peter Brötzmann were no longer that far away. In fact, I found Brötzmann’s album “Machine Gun – Automatic Gun for Fast and Continuous Firing” and a selection of free jazz and free improvisation music from Europe and the United States in the apartment of the trumpet player Mazen Kerbaj in East Beirut.

In Beirut, Atoui wanted to discover this scene and the up-and-coming subscenes like post-rock with an experimental touch (Scrambled Eggs), noise to grindcore (Xardas), electro-acoustic works (Cynthia Zaven) and glitch. To do so, Atoui returned to Beirut in 2006 for three months. He organized two workshops and presented MAX/MSP to many of the upcoming musicians in Beirut. It is with this software that Atoui creates his highly complex mixtures of digital soundscapes, abstract beats and noises. He also held children’s workshops in Palestinian refugee camps in Lebanon, during which he taught children to record and film sounds and images from their local surroundings and to edit the video and sounds into collages.

In addition to the workshops, Atoui performed regularly. In his performances, he created soundscapes full of ruptures, cuts and contrasts, and mashups of intense noises, digital frequencies and samples from different sources including field recordings, voices (Arabic, English, Chinese, etc.) media files (from radio and TV), popular music (Arabic strings, Chinese opera, etc.), war sounds and much more. Listeners receive the sounds in different qualities (lo-fi to hi-fi) and compressions (MP3 to Wave), and Atoui adds reverb, distortion and other effects to the mix. The resulting sounds are then sent to the left and right channels and to the foreground and background of the speakers. It is from these performances that we find many reasons to include Atoui within the new avant-garde of the 21st century. His music is not intellectual and stiff, but rather switches within seconds between old categories of high and pop-culture, and while a bit more extreme, it is similar to pop-avant-garde streams in the United States.

Atoui does focus on his performance as much as on the finished piece of music. He spends a lot of his time developing what some call «psychological» interfaces. These interfaces enable interaction in real-time between him as a musician and his laptop. On stage, he ‘plays’ his laptop like a famous rock guitarist plays his guitar. To do so he uses self-built controls to steer his software. At first, Atoui stands still while his music plunges through chaos, with noise and rhythmic structures originating from all possible directions. Then his body starts to move, as he introduces breakbeats. Hardcore drum’n’bass begin structuring the soundscape encapsulating beats from the well-known canon of popular music and club culture. On YouTube one can see Atoui in action – sometimes he performs without a shirt, and the sweat on his body shows the intensity of his music. Russolo and some members of the old European avant-garde would have a fit if they saw these hedonistic performances.

Music resembles the structures of the society in which an artist lives – as several ethnomusicologists argue at times (Blacking, 1976, Erlmann, 2005). Tarek Atoui lives in an increasingly digitized and transnational society where his musical samples derive from here and there and from the past and the present. While his mixes and mashups are full of breaks and ruptures, his life is fairly chaotic as well. It is possible to reach Atoui via Skype, Facebook and email, but never via landline. Since 2005, he has lived without a permanent place of residence. He travels from job to job, performing well-paid events in art universities in Europe, poorly paid gigs in small music venues and giving lectures and organizing workshops in the Middle East funded by an international art and development NGO. Recently, he has spent his time performing and working in Sharjah in the United Arab Emirates. He must constantly negotiate between his own artistic visions and the diverse demands of his various hosts as he moves between the worlds of art, theater, dance and music. Switching between contexts of this sort resembles those from the pop avant-garde born in the United States, or rather, as some have called it, experimental music from non-musicians who were educated at universities of art. These non-musicians have more freedom than the musicians who are stuck in the large institutions of the music world (Kahn, 2001, p.104).

From Arabic Music to the Noises of War

What upsets Tarek Atoui and his musician colleagues in Beirut the most is when international art organizations, music lovers, and ethnomusicologists from the United States and Europe argue that their music sounds too Westernized. They often feel pressured to introduce more elements from Arabic music, a style they are often unfamiliar with for various reasons. For example, the European style teaching of Arabic music let many musicians flee away from this musical canon (Burkhalter, 2007, 2011, Racy, 2003, Touma, 1998). According to today’s musical avant-garde in Beirut the demand to introduce more Arabic music is simply dim-witted – and some of these artists have learned how to confront what they call the Orientalist demand.

Mazen Kerbaj opened this debate on the interrelation between music and the sounds of the Lebanese Civil War while being interviewed by a German journalist. «Maybe one hears the Lebanese Civil War in our playing, I told the journalist», Kerbaj told me during one of our interviews. «Sharif and Christine Sehnaoui, who sat next to me, almost burst into tears from laughter when they heard me say this.» Was Mazen Kerbaj’s answer simply a strategic move to answer the frequent questions about «authenticity» and «locality» that foreign journalists, international funders and scholars continue to ask? Or was it more? It is certainly an interesting answer to a challenging question: How are sounds heard during one’s childhood and youth translated into one’s later artistic expression? Indeed, the blubbering, jarring and clapping sounds that Kerbaj produces on his trumpet seem to resemble the sounds of rifles and helicopters. Is this more than just the imagination, or simply wishful thinking? If we seriously analyze the issue, it becomes clear. The surroundings in which one grew up have an impact on the music of a musician. However, this impact takes place on the deepest levels of musical creation, not necessarily on the surface. However, superficially, one could read these strategies of working with the sounds of war as a move not to «disappoint» international audiences. One could critically argue that the “exotic” flavor of the sounds of war replaces that of Arabic music. Particularly outside the field of music, many Lebanese artists who present their works internationally use memories, images and audio samples from the Civil War (or from the 2006 war between Israel and Hizbullah), some of which are hidden and others readily apparent. In doing so, they create a certain «locality» or even «authenticity». Atoui is extremely critical of these artistic strategies; however, he knows all too well that this topic is too complex to judge quickly and easily.

Some Beiruti musicians follow different paths to create local sound. Some follow the renewed transnational trend for psychedelic music, and the best of these work with psychedelic music from a perspective different from many of the musicians from Europe and the United States that work in the field. They are aware of what the samples they use represent within the Middle Eastern context, or at least, they understand the lyrics of the sampled song bytes.

Raed Yassin, a colleague of Tarek Atoui, manipulates sounds from Lebanese and Egyptian pop culture on his new label Annihaya. His pieces function on the aesthetical level primarily, as they become hidden audio-narratives that comment critically on social and political issues. In the worst case however, some of the Lebanese musicians do not know much about the psychedelic media samples they utilize, often because they grew up in the city within elite families, and thus pop culture from rural areas is rather foreign to them. I felt this strongly after the 2006 war, when many Lebanese video producers went to South Beirut and to southern Lebanon to film the destruction. Some of these artists were entering these areas for the first time, and in their short videos they often talked and behaved like tourists – thus, the gap between the avant-garde and the non-elite and rural-pop culture still exists today. Most of these Beiruti musicians studied in art schools, and not in the rather conservative National Lebanese Conservatory. Some of them grew up in huge villas as well.

In Jennifer Fox’s documentary film, Beirut – The Last Home Movie, we see Sharif Sehnaoui as a little boy. The film offers insight into the daily life of a well-off Lebanese family living in East Beirut. We see the family members working in the garden and cleaning the house, while we hear shooting and shelling nearby. To forget the harsh realities of war, the women depilate their legs, and the men compete in car races through the narrow streets of the Lebanese mountains. Often times, the family sits together in the shelter with friends from the neighborhood during heavy bombardments. Little Sharif and the other children have the attention of the whole family upon them, as they play games, watch animated cartoons and are allowed to stay up late. Everyone ignores even the loudest explosions. Imprisoned by the war, the family creates its own private world, in which they pretend to live an ordinary everyday life. Despite attempts to convince themselves and their children that everything is okay, in the end this strategy does not work, argues the Lebanese anthropologist Samir Khalaf. The war affected all the Lebanese, with even the rich and educated suffering from trauma. While one should not judge the elite for being better off, their experience should probably not be compared to the experiences of those from the poorer groups. «There is hardly a Lebanese today who was exempt from these atrocities either directly or vicariously as a mediated experience. Violence and terror touched virtually everyone.» (Khalaf 2002, p.236) Among these elite musicians, some saw the death of family members or friends with their own eyes.

From our first conversation, Tarek Atoui convinced me with his clear and cogent positions on these complex and delicate topics and questions. He tries hard not to mix his role as a musician with his role as a social actor and a human being. Within his music, he strays close to the European concept of creating art for art’s sake. Art for art itself is political, because it aims to inspire people to move beyond commercialism, propaganda, and in his case Orientalism, a necessity for not only Lebanon, but for the transnational music worlds as a whole. Atoui believes that artists can play a direct role in changing societies as well, thus why he works on social projects and in workshops. However, these are separated clearly from his artistic career.

For me, this again puts him within the ranks of the new avant-garde of the twenty-first century. This new avant-garde evolved outside the Euro-American world and it creates increasingly strong artistic and political positions. Artistically, it renders music that is between pop culture and music as art. The range of musical variety is wide. On one side of the extreme, we find styles like kudoro, kwaito, baile funk and nortec, which some scholars call global ghettotech (Marshall, 2009). These styles are to a certain extent an updated version of what Eshun calls afrofuturism (Eshun, 1999, Goodman, 2010). On the other extreme, we find artists working in such genres as free improvisation, musique concrète and glitch (Prior, 2008, Kraut, 2009). These artists deal with concepts like anti-Orientalism and alternative modernity, and they are as close to Futurism as they are to afrofuturism. Politically however, these musicians often do not believe in big political ideas anymore, and they often do not present direct politics in their music. The Lebanese musicians, for example, do not feel close to the leftist protest singers of the Lebanese Civil War, like Marcel Khalife, Khaled al-Habre or Ahmad Qaboor. If anything, they prefer the Lebanese singer and musician Philemon Wehbe who during the Civil War released a cassette with the song, «Lebanon, They Fucked You All».

In addition, the new avant-garde is no longer interested in the clear divisions between the so-called first and third world. They network and collaborate freely with musicians in Europe and the United States as equals. In my last Skype conversation with Atoui, one of his sentences really stuck with me. On my own network, www.norient.com, I perform the piece «Sonic Traces: From the Arab World», an audiovisual journey through sounds, music and noises from the Arab World. Three Swiss (including myself) play on stage, and sometimes a guest from the Arab World (for example, Raed Yassin) plays with us, whenever an organizer can afford the airfare. Tarek Atoui told me to contact Sharif Sehnaoui to perform at the 10th Irtijal Festival for Improvised Music in Beirut. We intend to do so, most likely in 2011; however, we are a bit worried. Three Swiss people talking to an Arab audience about music in the Arab World, Will this work? «Don’t worry», Atoui told me directly, «We create our music in transnational niche circles, beyond nationalities. You are one of us.»

Tarek Atoui and his colleagues in Beirut represent the new avant-garde of the 21st century. They challenge the Euro-and US-centric views of innovation in music, and are part of Music 2.0 niche networks. They create music in small studios, rather than in big radio studios like those from the earlier avant-garde. Their music speaks from a specific, non-Eurocentric position, and does not come with political or artistic manifestos. It is not Futurism, nor is it afrofuturism, and it is often unstable and not always clear in its focus. It is searching to find transnational artistic positions beyond Orientalism, consumerism and propaganda.

After a brilliant and moving concert with the Staalplaat Sound-System at the Transmediale Festival in Berlin in 2008, Atoui was very angry. «We fucked up, we lost control», he told me unhappily after the performance. This is what today’s world is about, I thought. We are surrounded by information, by war, by terror and by an enormous volume of media sources. One could argue that Atoui creates the soundtrack of the 21st century, which would fit with Anthony Storr’s idea that music is an attempt to «create sense out of chaos» (Storr, 1992). According to him, music is not an escape from «real» life, but rather a way of ordering human experience. At least Atoui and some of his Beiruti colleagues seem to come closer to the cry of the Pop Art generation: Art is life and life is art.

This essay was first published at Bonner Kunstverein:

Burkhalter, Thomas. 2010. «Tarek Atoui – or: Reflections on the New Musical Avant-Gardes of the 21. Century». In Indicated by Signs. Bonner Kunstverein, Goethe Institute Kairo.

Bibliography

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Asmar, Sami. «Remembering Zaki Nasif: A Lebanese Musical Odyssey.» Al Jadid Magazine 2004, 46/47 ed. —. «Tawfiq al-Basha (1924-2005) – Passion for Modernizing and Popularizing Instrumental Arab Music.» Al Jadid Magazine 52 ed.

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Witt-Stahl, Susann. …But his soul goes marching on – Musik zur Ästhethisierung und Inszenierung des Krieges. Karben: Coda, 1999.

Soundscape-Aktivismus und Komposition

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Murray Schafer gilt als der Begründer der Soundscape-Forschung. Wie beeinflusst unsere akustische Umgebung uns als Menschen? Dieser Frage geht Murray Schafer seit den 1950er als Komponist, Hörforscher, Musikpädagoge und Anti-Lärm-Aktivist nach. Er ist ein Mann mit einer akustischen Vision, vielen Verehrern und einigen Kritikern. Thomas Burkhalter hat Murray Schafer an einer Soundscape Konferenz im Finnischen Koli zum Gespräch getroffen. Ein Portrait.

Auf die Komposition «The Vancouver Soundscape» wird Murray Schafer fast immer angesprochen. «The Vancouver Soundscape» entstand 1973 in Vancouver, der drittgrössten Stadt Kanadas. Murray Schafer war damals Leiter des World Soundscape Project, einer Gruppe von Klangforschern vom Institut für Kommunikation an der lokalen Simon Frazer Universität. Wie verändert sich unsere akustische Umgebung – das interessierte Schafer. Und: Wie nimmt unser Ohr Informationen auf. Schafer und seine Forschungsassistenten Barry Truax, Hildegard Westerkamp, Peter Huse, Bruce Davis und Howard Broomfield zogen also mit Aufnahmegeräten und Spezialmikrophonen los, und sie fingen die verschiedenen Lärm- und Geräuschquellen von Vancouver ein. Sie fragten auch die Leute: Wie hört ihr Eure Stadt? Welche Geräusche gefallen Euch – und welche nicht? Es entstand eine Sammlung von Geräuschen aus Vancouver. Und eine Sammlung von Anekdoten darüber, wie es früher geklungen hat in Vancouver. Da war alles dabei: Schiffshörner, das Quietschen der Züge, bis zu Erzählungen von Indianern in den Reservaten.

«The Vancouver Soundscape» war eigentlich als eine reine Dokumentation gedacht, als ein Katalog von Umweltgeräuschen. Klaus Schöning vom Kölner HörSpielStudio hatte aber eine andere Idee: Für den WDR stellt er die Aufnahmen zu einer musikalischen Komposition zusammen. Das war die zündende Idee, sagt Murray Schafer heute. Das Genre Soundscape-Komposition war geboren. Komponisten und Musiker weltweit nahmen jetzt ihre akustische Umgebung auf und verarbeiteten sie zu Kollagen. Für Schafer selber eine ziemliche Überraschung.

Murray Schafer arbeitete bald für das kanadische Radio CBC. «The Soundscapes of Canada» hiess eine seiner Produktionen. 1975 reiste er dann nach Europa. Dort nahm er die Geräusche und Klänge in fünf Dörfern auf: «Five European Villages», hiess das Projekt. Tag und Nacht nahm die Gruppe auf – nicht bloss die Kirchenmusik, sondern auch den Verkehr vor der Kirche. Musikethnologen untersuchten damals vorwiegend Volksmusik, Schafer aber analysierte Dörfer anhand ihrer Geräusche. In jedem Dorf fand er andere Klänge und Geräusche; überall aber ähnelte sich der akustische Rhythmus von Tag und Nacht. Schafer notierte alles fein säuberlich: Zu welcher Zeit stehen die Leute auf? Wann hört man die Kinder, wann die Frauen, wann die Männer?

Die Musique Concrète setzt meistens auf Akusmatik: Das akustische Grundmaterial wird komplett in einen neuen Kontext übersetzt; die Originalsubstanz eines Klangs ist nicht mehr erkennbar. Die Soundscape-Komposition ist für Murray Schafer mehr: – Er und seine Kollegen von der Frazer Universität haben sogar einen Prinzipienkatalog aufgestellt: 1) Das akustische Originalmaterial bleibt für den Hörer erkennbar; 2) Der Hörer lernt über das Hören einer Soundscape-Komposition eine real existierende Landschaft besser kennen 3) Das akustische Originalmaterial in der originalen Landschaft beeinflusst die Ästhetik und Form der Soundscape-Komposition auf allen Ebenen. 4) Die Soundscape-Komposition verändert unser Wissen und unsere Wahrnehmung der Welt. Soundscape-Komposition wird so zu einem Forschungszweig der Akustischen Ökologie. Es geht immer um Orte, Zeitfragen, die Umwelt und um Hörerfahrungen.

Eines ist für Murray Schafer zentral: Der Soundscape-Forscher sollte sich tiefgreifend mit der akustischen Umgebung vertraut machen, die er vertonen will. Manche Komponisten stehlen die Geräusche sozusagen aus ihrer Umgebung, findet er. Seine Studenten zum Beispiel: Sie haben Frösche aufgenommen, ohne zu wissen, was für Frösche das eigentlich sind. Schafer passte das gar nicht. Es geht Schafer nicht nur darum, mit teuren Geräten herumzureisen und alles aufzunehmen, was einem grad so über den Weg läuft.

Zum Podcast

Diese Sendung wurde ausgestrahlt am Mittwoch 23.3.2011 in «Musik unserer Zeit» auf Schweizer Radio DRS2.

Literatur-Tipp

Järviluoma Helmi & Kytö Meri & Truax Barry & Uimonen Heikki & Vikman Noora. Acoustic Environments in Change & Five Village Soundscapes. TAMK University of Applied Sciences. Series A. Research papers 13. University of Joensuu, Faculty of Humanities, Studies in Literature and Culture 14.

Tracklist

The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. The Music of Horns and Whistles, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Squamish Narrative, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Winter Images, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Cembra, Eastern Evening, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. A Children’s Church Service, and the Bells of Blissingen, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Morra, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
Murray Schafer. On Acoustic Design, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
Murray Schafer. The Crown of Adriana (The Schafer Ensemble featuring Judy Loman), Opening Days Recordings ODR9307
Murray Schafer. 3rd String Quartett (Mollinari Quartet & Marieä-Danielle Parent), ATMA Classique
Murray Schafer. Princess’ Aria (The Schafer Ensemble featuring Judy Loman), Opening Days Recordings ODR9307
Murray Schafer. Tapio for Alphorn, Canadian Music Centre CMCCD8902
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Ocean Sounds, Cambridge Street Records CSR-2CD 9701
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Dance of the Inscets, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
The World Soundscape Projekt, Simon Fraser University. Snow Games, AEC, Archive of Folk Tradition, UTA
Murray Schafer, Claude Schryer. Winter Diary, BMG Ariola Classics 73522 2

Die Stadt als Schlagwerk

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Aus einer Bibliothek von 23'000 Soundfiles – vom Aktenvernichter bis zum Absaugrohr, von der Planierraupe bis zum Bauchspeck – schufen schwedische Musiker und Filmemacher eine Symphonie von Malmö. Ein Interview mit dem Regisseuren des Films Sound of Noise.

Man nehme eine Handvoll Musiker mit krimineller Energie und das Mobiliar einer Spiesserwohnung. Heraus kommt der Kurzfilm „Music for one apartment and six drummers“- ein auf youtube millionenfach angeklicktes, absurdes Lehrstück für alle Perkussionisten. Mit Klo- und Zahnbürste, Schlaftabletten, Mixer, Eieruhr und Staubsauger schichten die Eindringlinge Rhythmen, erschaffen Kleinode zwischen Küchen-Funk und Toiletten-Drum’n’Bass.

Doch Haushaltmusik war gestern: Regisseur Ola Simonsson hat seine Truppe erneut zusammengetrommelt und wagt nun mit dem kompletten Feature-Film Sound of Noise den Sprung zum denkbar größten Instrument: eine Stadt.
 Seine sechs Helden sind sämtlich vom herzlosen und eingefahrenen Musikbetrieb enttäuscht, sie verdienen ihre Brötchen etwa als Schlagzeuger einer bräsigen Showband, als gelangweilter Paukenschläger für die berühmte Haydn-Symphonie. Und so greift das Sextett um den nerdigen Komponist Magnus Börjeson und die herrlich unterkühlte Sanna Persson zum äussersten Mittel: Mit gezielten musikalischen Terroranschlägen auf Malmö unterminieren sie das Establishment. Und realisieren dabei eine groteske Partitur in vier Sätzen mit punkiger Energie, technoidem Flair und Industrial-Anleihen: Sie entern ein Krankenhaus und machen den OP-Saal inklusive Patient zum Schlagwerk. Mit dem Schlachtruf «Hands up, this is a gig!» wird groovend eine Bank überfallen. Der Aufführung einer Symphonie fahren sie mit Bulldozer und Presslufthammer in die Parade. Und schliesslich hämmern sie gar aus dem städtischen Stromnetz eine monströse Klang- und Lichtshow. 


Ein Jahr lang haben Simonsson und seine Perkussionisten nach Objekten und Gebrauchsgegenständen gesucht, die sich für ihre Zwecke verwenden liessen. Aus einer Bibliothek von sage und schreibe 23’000 Soundfiles, vom Aktenvernichter bis zum Absaugrohr, von der Planierraupe bis zum Bauchspeck wurde diese unorthodoxe «Symphonie der Grossstadt» dann zusammengesetzt. Geholfen hat der französische Klangkünstler Nicolas Becker, der auch für den Sound der Harry Potter-Filme verantwortlich ist. Verwöhnt durch die handwerkliche Dichte des vorangegangenen Kurzfilms hätte man sich als Zuschauer/-hörer natürlich noch mehr und längere Klangattacken gewünscht. Doch es muss ja auch Platz bleiben für einen Gegenspieler der Musikterroristen, verkörpert durch den komplett unmusikalischen Ermittler Amadeus (!) Warnebring (Bengt Nilsson). Mit Minderwertigkeitskomplexen gegenüber seinem Bruder, einem Stardirigenten, behaftet, will er nicht nur die Musiker, sondern die Musik überhaupt zur Strecke bringen. Ob ihm das gelingt, zumal er sich in die Perkussionistenchefin Sanna verliebt? So viel sei verraten: Warnebring, der von einem «Sound Of Silence» träumt, wird am Ende Zeuge einer veritablen «Electric Love»


Interview mit Ola Simonsson, Regisseur von Sound Of Noise



[Stefan Franzen]: Herr Simonsson, woher kommt Ihre Obsession für Perkussionsinstrumente?


[Ola Simonsson]: Ich denke nicht, dass es eine Obsession für Perkussion ist, mein Antrieb ist eher, Musik aus Alltagsgegenständen zu produzieren. Die Musiker im Film trommeln ja auch nicht einfach auf allem herum, sondern versuchen, Töne und Akkorde auf bestimmten Gegenständen zu fabrizieren. Nach dem Kurzfilm Music For One Apartment And Six Drummers haben wir ständig weitergeforscht, auf was für Objekten sich spielen liess, und irgendwann entschieden wir dann, dass wir einen abendfüllenden Film wagen sollten.

[SF]: Gab es für diese Brücke zwischen hör- und sichtbarer Rhythmik irgendwelche Vorbilder in der Filmgeschichte?
[OS]: Wir haben uns gar nicht viele andere Filme angeschaut, sondern darauf konzentriert, unsere eigene Sprache zu finden, was natürlich manchmal heissen kann, dass man das Rad neu erfinden muss. Aber so konnten wir unseren Stempel aufdrücken, niemanden kopieren. Wir glauben im übrigen, dass jeder diese Musik machen kann und ermutigen die Leute dazu! Es wäre toll, überall auf der Welt neue Snare- und Bass-Drums zu haben, also öffnet eure Ohren und hört auf eure Umgebung! Ein Beispiel: Als ich am Computer die Sounds für den Kurzfilm zusammensetzte, da fing meine Frau – auch eine Musikerin – in der Küche an, auf dem Mixer zu spielen.

[SF]: Nur für die Statistik: wie viele Musikinstrumente wurden im Film zerstört?


[OS]: (lacht) Das war schmerzhaft für mich, denn ich bin selber Musiker. Doch wir mussten es tun für diese eine Szene. Ich habe sie nicht gezählt. Wir haben versucht Instrumente zu finden, die noch gut aussahen, aber nicht mehr spielbar waren. Bengt Nilsson, der den Kommissar spielt, hat sich so aufs Kaputtmachen konzentriert, dass er danach für ein paar Minuten nicht mehr ansprechbar war. Er ist ja in seiner Zerstörungswut auch sehr überzeugend.



[SF]: Wie entstanden die Sounds, die wir im Film hören?


[OS]: Wir haben ein Jahr lang mit den Drummern und dem französischen Soundkünstler Nicolas Becker daran gearbeitet, das ist der Mann, der auch für die Harry Potter-Filme die Klänge gemacht hat. Im Verlauf dieses Jahres hatten wir fünf Aufnahmesessions über mehrere Tage. Dafür wurden eine Menge von Instrumenten und Objekten zusammengetragen, die Drummer haben versucht, dafür Sounds und Rhythmen zu finden, die wir dann aufgenommen haben. Für die Szene vor der Oper zum Beispiel haben wir Baumaschinen und Bulldozer gefunden, die sehr alt waren. Die neuen sind leise, wir aber brauchten knallende Türen, heftige Motoren. Am Ende hatten wir eine «Bibliothek» von 23’000 Files auf dem Rechner und wurden fast verrückt, wegen der vielen Optionen, aus denen sich die Stücke bauen liessen. Das Shooting funktionierte dann eher wie in einem Rockvideo. Wir liessen den Sound, den wir aus den Files zusammengesetzt hatten, im Hintergrund laufen, und die Drummer agierten dazu.



[SF]: Würden Sie zustimmen, dass der Featurefilm eine Art Technoversion des Kurzfilmes ist, was den Sound angeht? Der Kurzfilm war ja sehr akustisch und Sound Of Noise wird vor allem gegen Ende eher hart …


[OS]: Den Techno haben wir nie diskutiert, eher den Punk. Wir haben Einstürzende Neubauten und The Prodigy gehört, Musik mit grosser Energie. Anfangs wollten wir bei akustischen Instrumenten bleiben, aber das wäre fast in Richtung südamerikanische Party abegdriftet, und diesen Stil wollten wir nicht. Als wir uns dann für elektrische Instrumente entschieden, wurde es cooler.



[SF]: Im vierten Satz hängen die Musiker an Starkstromleitungen. Wurde das mit Stuntmen gedreht?
[OS]: Es gab einen Moment, in dem wir versuchten, die Musiker an die Kabel zu bringen, aber es war zu gefährlich. Ich meine: Wer kann garantieren, dass keine Spannung auf der Leitung ist? Selbst wenn wir das mit den Stromversorgerfirmen abgesprochen hätten: Ich würde da nie raufgehen. Wir machten in Malmö ein altes Ausbesserungswerk für Lokomotiven ausfindig, dort gab es eine Traverse über die man Kabel hängen konnte. Die Drummer waren also in einer Höhe von fünf Metern an diesen Kabeln, und den Rest haben wir mit Blue Screen getrickst. 



[SF]: Was machen die Drummer eigentlich im wirklichen Leben? Wurden Sie, wie Sanna im Film, tatsächlich von der Musikhochschule exmatrikuliert?
[OS]: Ich bin selbst auf die Musikhochschule gegangen und habe einige von ihnen dort kennen gelernt. Die Band hat vor dem Kurzfilm nicht existiert. Sanna, das einzige weibliche Mitglied, ist eine Schauspielerin, die anderen sind schauspielernde Trommler. Doch während wir den Kurzfilm machten, lernten wir die Charaktere der einzelnen Leute kennen wir wussten: Ok, dieser Typ sollte die delikateren Instrumente spielen, der dagegen ist eher der elektrische Typ, der der Solist. Im Featurefilm werden die Charaktere noch ausgebaut.



[SF]: Im Plot wird ja auch in gewisser Weise ein Kampf zwischen dem etablierten Musikbetrieb und dem Untergrund ausgetragen…


[OS]: Das würde ich so nicht sagen. Ich betone, dass ich viel klassische Musik gespielt habe, und ich mochte das. Zugegeben: Das Haydn-Stück, die «Symphonie mit dem Paukenschlag», die im Film vorkommt, ist ein bisschen doof. Aber es geht mir darum zu zeigen, dass Musik nicht in Kategorien eingeteilt werden sollte, und das passiert jedem Stil. Im klassischen Musikbetrieb herrschen Lehrmeinungen vor, dass man ein Stück genauso und nicht anders zu spielen habe, vor allem in der Alten Musik, in der Renaissance. Im frühen Jazz dagegen war die Freiheit eine Maxime, das Lustprinzip. Heutzutage allerdings ist der Jazz wieder eine intellektuelle Angelegenheit geworden, auch hier findet man wieder Festlegungen, ein Diktat der Ausführungen, bis in den HipHop hinein findet man die Stilpolizei. Das tötet die Musik. Darum geht es mir: Meine Kritik bezieht sich auf diese Engstirnigkeit der Ausübenden.



[SF]: Die Musiker Ihres Filmes werden von Kommissar Warnebrink und der Malmöer Polizei auch als Terroristen gesehen. In einer Szene werden vorsichtshalber alle möglichen unschuldigen Musiker verhaftet – das weckt Assoziationen an gewisse weltpolitische Geschehnisse.
[OS]: Natürlich hatten wir das mit im Hinterkopf. Was wir im Kurzfilm etabliert hatten, das war die Verbindung von music and crime. Eine sehr frische Perspektive, Musiker als Verbrecher zu sehen. Auch auf dem Hintergrund der Binsenweisheit, dass es – für Regime und Diktatoren – sehr schwierig ist, einen Song zu töten. Sie haben Angst vor der Macht der Musik. Schauen Sie sich an, wie die Leute in Russland Kassetten von Wladimir Wyssozki schmuggelten und das Regime keine Handhabe dagegen hatte. Auch beim ANC in Südafrika spielte Musik eine sehr wichtige Rolle, um das Apartheidsystem zu stürzen.

Kommissar Warnebrink, der die Musiker zur Strecke bringen soll, träumt von einer Musik, die aus Stille gemacht ist.

[SF]: Versteckt sich in Ihrem Film auch eine Kritik an der Dauerberieselung?


[OS]: Es ist kein politischer Film. Aber als Musikliebhaber fällt mir die Dauerbeschallung natürlich schon auf. Ich sitze mit Ihnen in der Hotellobby und wir hören Musik, ist die hier wirklich nötig? Im November kommt aus allen Kaufhauslautsprechern «Stille Nacht». Während der kommunistischen Ära hatten sie speziell designte Arbeitslieder, damit die Leute effektiver und mehr arbeiteten. Auf der anderen Seite haben wir Entspannungsmusik, die mich an George Orwell denken lässt. Der Markt diktiert heute, dass Musik überall ist. Du kaufst mehr, wenn du in Stimmung gebracht wirst. Ich will selbst entscheiden können, wann ich Musik höre. Stille ist nichts Schlechtes, ich mag Stille. Meine Grossmutter kam noch aus einem kleinen schwedischen Dorf, da gab es nicht viel Musik unterm Jahr, kein Radio, kein Grammophon. Wenn Weihnachten nahte, dann freute sie sich drauf, weil sie in die Kirche gehen konnte und dort «Stille Nacht» hörte, von einem ganz speziellen Sänger gesungen. Heute, wo alles nur noch einen Click entfernt ist, haben die Leute eines verlernt: sich nach Musik zu sehnen.






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